»Zumindest«, sagte Tanis leise zu Sturm, »würde das vielleicht unseren Verfolger abschütteln.«
»Wer oder was auch immer er ist«, antwortete Sturm, »er scheint sich auszukennen, möchte ich sagen. Immer wenn ich versuche herauszufinden, wer uns da eigentlich folgt, und mich etwas zurückfallen lasse, verschwindet er. Ich dachte daran, ihm eine Falle zu stellen, fand aber bisher keine Zeit dazu.«
Die Gruppe hatte den Fuß eines riesigen Granitfelsens erreicht und trat dankbar aus dem Gestrüpp hervor. Gilthanas ging einige hundert Meter an der Felswand entlang und tastete sie suchend ab. Plötzlich hielt er inne.
»Wir sind da«, flüsterte er. Er griff in seine Tunika und holte einen kleinen Edelstein hervor, der in einem sanften, gedämpften Gelb glühte. Er fuhr noch einmal mit der Hand über die Gesteinswand und fand schließlich, was er gesucht hatte – eine kleine Nische im Granit. Er legte den Edelstein in die Nische und begann, uralte Worte zu murmeln und in der nächtlichen Luft mit der Hand Zeichen zu ziehen.
»Höchst eindrucksvoll«, flüsterte Fizban. »Ich wußte gar nicht, daß er einer von uns ist«, sagte er zu Raistlin.
»Ein Dilettant, weiter nichts«, erwiderte der Magier. Trotzdem stützte er sich erschöpft auf seinen Stab und beobachtete Gilthanas aufmerksam.
Plötzlich und lautlos bewegte sich ein riesiger Steinblock aus der Felswand zur Seite. Die Gefährten wichen zurück, als ein kühler, feuchter Luftzug aus der Öffnung strömte.
»Was ist dort?« fragte Caramon argwöhnisch.
»Ich weiß nicht, was sich dort jetzt befindet«, antwortete Gilthanas. »Ich habe es noch nie betreten. Ich kenne diesen Ort nur aus den Legenden meines Volkes.«
»Na gut«, knurrte Caramon. »Was war das denn früher?«
Gilthanas machte eine Pause, dann antwortete er. »Dies war die Grabkammer von Kith-Kanan.«
»Schon wieder Gespenster«, murrte Flint und spähte in die Dunkelheit. »Schickt den Magier zuerst hinein, damit er sie warnen kann, daß wir kommen.«
»Werft den Zwerg hinein«, parierte Raistlin. »Sie sind es gewöhnt, in dunklen feuchten Höhlen zu hausen.«
»Du meinst die Bergzwerge«, sagte Flint mit gesträubtem Bart. »Es ist schon viele Jahre her, daß die Hügelzwerge unter der Erde im Königreich von Thorbardin gelebt haben.«
»Nur weil ihr hinausgeschmissen wurdet!« zischte Raistlin.
»Hört beide auf!« sagte Tanis wütend. »Raistlin, was spürst du bei diesem Ort?«
»Böses. Viel Böses«, entgegnete der Magier.
»Aber ich spüre auch viel Gutes«, sagte Fizban unerwartet. »Die Elfen sind in diesen Gemäuern nicht in Vergessenheit geraten, auch wenn heute das Böse an ihrer statt regiert.«
»Das ist verrückt!« schrie Eben. Der Lärm echote unheimlich von den Steinen, und die anderen fuhren erschreckt herum, starrten ihn beunruhigt an. »Tut mir leid«, sagte er und sprach leiser. »Aber ich kann nicht glauben, daß ihr da hineingehen wollt! Man braucht keinen Magier, der einem sagt, daß in diesem Loch das Böse weilt. Ich kann es spüren! Laßt uns zurück zur Vorderseite gehen«, drängte er. »Sicher, da werden ein oder zwei Wachen sein – aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was hier in dieser Dunkelheit lauert!«
»Er hat den Punkt getroffen, Tanis«, sagte Caramon. »Du kannst nicht gegen die Toten kämpfen. Das haben wir im Düsterwald erfahren.«
»Dies ist der einzige Weg!« sagte Gilthanas wütend. »Wenn ihr solche Feiglinge seid…«
»Zwischen Vorsicht und Feigheit besteht ein Unterschied, Gilthanas«, sagte Tanis ruhig und gelassen. Der Halb-Elf dachte einen Moment nach. »Wir könnten die Wachen am Vordertor überwältigen, aber vorher werden sie die anderen warnen. Ich denke, wir gehen erst einmal hier hinein und sehen uns diesen Weg näher an. Flint, du führst. Raistlin, wir brauchen dein Licht.«
»Shirak«, befahl der Magier leise, und der Kristall glomm auf. Er und Flint tauchten in die Höhle, dicht gefolgt von den anderen. Der Tunnel, in den sie traten, war offensichtlich uralt, aber es war unmöglich zu sagen, ob er natürlichen oder künstlichen Ursprungs war.
»Was ist mit unserem Verfolger?« fragte Sturm leise. »Sollen wir den Eingang offen lassen?«
Tanis wandte sich an Gilthanas. »Laß den Eingang nur einen Spalt offen, Gilthanas, so weit, daß unser Verfolger weiß, daß wir hier waren, aber nicht so breit, daß er uns folgen kann.«
Gilthanas zog den Edelstein weg, legte ihn in eine Nische im Innern der Höhle und sprach ein paar Worte. Das Gestein begann sich geräuschlos zusammenzuschieben. Im letzten Moment, der Spalt war nur noch wenige Zentimeter breit, entfernte Gilthanas schnell den Edelstein. Das Gestein kam zum Halt, und der Ritter, der Elf und der Halb-Elf traten zu den Gefährten im Eingang zum Sla-Mori.
»Hier ist es sehr staubig«, berichtete Raistlin hustend, »aber keine Spuren, zumindest nicht in diesem Teil der Höhle.«
»Ungefähr hundert Meter weiter ist eine Gabelung«, fügte Flint hinzu. »Dort fanden wir Fußspuren, aber wir konnten sie nicht näher bestimmen. Sie sehen weder nach Drakoniern noch nach Hobgoblins aus, und sie führen nicht in diese Richtung. Der Magier meint, das Böse käme von rechts.«
»Wir werden hier übernachten«, sagte Tanis, »in der Nähe des Eingangs. Wir werden zwei Wachen aufstellen – eine an der Tür, die andere weiter im Tunnel. Sturm und Caramon übernehmen die erste Wache, dann Gilthanas und ich, Eben und Flußwind, Flint und Tolpan.«
»Und ich«, sagte Tika tapfer, obwohl sie sich noch nie so müde gefühlt hatte. »Ich werde auch Wache stehen.«
Tanis war froh, daß man in der Dunkelheit sein Lächeln nicht sehen konnte. »Sehr gut«, sagte er. »Du wirst mit Flint und Tolpan Wache halten.«
»Einverstanden!« antwortete Tika. Sie öffnete ihren Rucksack, kramte eine Decke hervor und legte sich hin. Die ganze Zeit über war sie sich bewußt, daß Caramons Augen auf ihr ruhten. Ebenso wußte sie, daß Eben sie beobachtete. Aber es störte sie nicht. Sie war daran gewöhnt, daß Männer sie bewundernd anstarrten, und Eben sah noch besser aus als der Krieger. Jedoch die Erinnerung an Caramons Umarmung ließ sie von neuem in furchtsamem Entzücken erbeben. Sie versuchte, nicht daran zu denken. Das Kettenhemd war kalt und zwickte durch die Bluse. Aber die anderen nahmen auch nicht die Rüstung ab. Außerdem war sie müde genug, um so wie sie war zu schlafen. Tikas letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, daß sie dankbar war, nicht mit Caramon allein zu sein.
Goldmond sah die Augen des Kriegers auf Tika ruhen. Sie flüsterte Flußwind etwas zu, der lächelnd nickte, und ging zu Caramon hinüber. Sie zog ihn von den anderen weg, in den Schatten des Korridors.
»Tanis hat mir erzählt, daß du eine ältere Schwester hast«, bemerkte sie.
»Ja«, antwortete Caramon erstaunt. »Kitiara. Aber sie ist meine Halbschwester.«
Goldmond lächelte und legte ihre Hand behutsam auf den Arm des Kriegers. »Ich werde jetzt mit dir wie deine ältere Schwester reden.«
Caramon grinste. »Nicht wie Kitiara, das schaffst du nicht, Prinzessin von Que-Shu. Kit sagte mir als erste, was all die Flüche bedeuteten, die ich hörte, und noch einiges andere mehr. Sie zeigte mir, wie man ein Schwert gebraucht und wie man bei Turnieren ehrenhaft kämpft. Aber sie brachte mir auch bei, wie man einem Mann in die Leisten tritt, wenn die Schiedsrichter nicht aufpassen. Nein, Prinzessin, du bist meiner älteren Schwester nicht ähnlich.«
Goldmonds Augen weiteten sich vor Verwunderung über die Beschreibung einer Frau, von der sie vermutete, daß der Halb-Elf sie liebte. »Aber ich dachte, sie und Tanis, ich meine, die beiden…«
Caramon winkte ab. »Sicherlich haben sie es gemacht!« sagte er.
Goldmond holte tief Luft. Sie wollte die Unterhaltung nicht abdriften lassen, aber es führte sie zu ihrem Anliegen. »Irgendwie ist es das, worüber ich mit dir sprechen möchte. Aber es geht um Tika.«
»Tika?« Caramon errötete. »Sie ist ein großartiges Mädchen. Entschuldige bitte, aber ich verstehe dein Problem nicht.«