Er sah hoch. Wie er vermutet hatte, befanden sie sich im oberen Teil der Festung. Die Kette lief über ein riesiges hölzernes Zahnrad, das mit einer Eisenachse verbunden war, und verschwand in einem Tunnel rechts vom Kender.
»Wir könnten über das Zahnrad klettern und an der Kette in den Tunnel kriechen«, schlug der Kender vor. »Kannst du das Licht hierher schicken?«
»Licht – zum Rad«, befahl Fizban.
Das Licht schwankte einen Moment in der Luft, dann tanzte es in einer entschieden verneinenden Weise hin und her.
Fizban runzelte die Stirn. »Licht – zum Rad!« wiederholte er streng.
Die Wölkchenflamme wirbelte herum und versteckte sich hinter dem Hut des Magiers. Fizban, der eine heftige Bewegung machte, um sie zu fassen, wäre beinahe gestürzt und konnte gerade noch rechtzeitig beide Arme um die Kette schlingen. Das Wölkchenlicht tanzte hinter ihm in der Luft.
»Uh, ich glaube, wir haben genug Licht«, sagte Tolpan.
»Keine Disziplin bei den Jungen«, murrte Fizban. »Sein Vater – nun, es gab einmal eine Wolke…« Die Stimme des alten Magiers brach ab, als er wieder zu klettern begann; die Flamme schwebte an der Spitze seines zerbeulten Hutes.
Tolpan erreichte bald den ersten Zahn des Rades und kroch weiter hoch. Fizban folgte ihm mit erstaunlicher Behendigkeit.
»Könntest du das Licht bitten, in den Tunnel zu leuchten?« fragte Tolpan.
»Licht – in den Tunnel«, befahl Fizban, seine mageren Beine waren um ein Kettenglied geschlungen.
Das Wölkchen schien sich den Befehl zu überlegen. Langsam tanzte es zum Rand des Tunnels, dann hielt es inne.
»In den Tunnel!« bestimmte der Magier.
Das Wölkchen gehorchte nicht.
»Ich glaube, es fürchtet sich vor der Dunkelheit«, erklärte Fizban entschuldigend.
»Meine Güte, wie bemerkenswert!« sagte der Kender erstaunt. »Nun«, dachte er einen Moment laut nach, »wenn es da bleibt, wo es ist, dann kann ich genug sehen, um über die Kette zu kommen. Es sind wohl nur fünf oder sechs Meter bis zum Tunnel.« Abgesehen von der Kleinigkeit, daß um uns herum mehr als hundert Meter Dunkelheit und Luft liegen, ganz zu schweigen vom Steinboden da unten, dachte er leise.
»Jemand sollte mal dieses Ding ölen«, sagte Fizban und untersuchte kritisch die Radachse. »Heutzutage sieht man nur noch schlampige Arbeit.«
»Ich bin wirklich froh, daß sie nicht geschmiert ist«, sagte Tolpan besänftigend und kroch weiter. Als er den halben Weg geschafft hatte, überlegte der Kender, wie es wohl wäre, von dieser Höhe zu stürzen, immer tiefer und tiefer und dann auf den Steinboden aufzuschlagen. Er fragte sich, was das wohl für ein Gefühl wäre, auf dem Boden aufzuklatschen…
»Beweg dich schon!« rief Fizban, der hinter dem Kender kroch.
Tolpan kroch schnell zum Tunneleingang weiter, wo die Wölkchenflamme wartete, dann sprang er von der Kette auf den Tunnelboden. Die Flamme tanzte hinter ihm her, und endlich erreichte auch Fizban den Tunneleingang. Im letzten Moment taumelte er, aber Tolpan erwischte sein Gewand und zog den alten Mann in Sicherheit.
Sie setzten sich hin, um auszuruhen, als der alte Mann plötzlich den Kopf hochwarf.
»Mein Stab«, sagte er.
»Was ist damit?« Tolpan gähnte und fragte sich, wie spät es wohl wäre.
Der alte Magier richtete sich schwankend auf. »Hab’ ihn unten vergessen«, murmelte er und ging auf die Kette zu.
»Warte! Du kannst nicht zurück!« Tolpan sprang auf.
»Wer sagt das?« fragte der alte Mann gereizt.
»Ich inmeine…«, stotterte Tolpan, »es wäre zu gefährlich. Aber ich weiß, wie du dich fühlst – mein Hupak ist auch unten.«
»Hmmmm«, machte Fizban und setzte sich traurig wieder hin.
»War er magisch?« fragte Tolpan nach einem Moment.
»Ich war mir nie ganz sicher«, antwortete Fizban versonnen.
»Nun«, meinte Tolpan praktisch denkend, »vielleicht können wir zurückgehen und ihn holen, wenn wir dieses Abenteuer hinter uns gebracht haben. Jetzt laß uns einen Platz finden, an dem wir uns ausruhen können.«
Er blickte sich im Tunnel um. Er war etwa drei Meter hoch. Die riesige Kette verlief mit vielen kleineren Ketten weiter in ein dunkles Loch. Tolpan starrte hinunter und konnte vage den Umriß gigantischer Steinblöcke erkennen.
»Wie spät ist es wohl?« fragte Tolpan.
»Essenszeit«, sagte der alte Mann. »Und wir können auch hier ausruhen. Dieser Platz ist so sicher wie jeder andere.« Er legte sich hin. Dann zog er eine Handvoll Quithpa hervor und begann geräuschvoll zu essen. Die Wölkchenflamme huschte zu ihm hinüber und ließ sich auf der Hutkrempe des Magiers nieder.
Tolpan setzte sich neben den Magier und begann an seinem Trockenobst zu knabbern. Dann schnüffelte er. Es roch merkwürdig, als ob jemand alte Socken verbrennen würde. Er sah hoch, seufzte und zog am Gewand des Magiers.
»Uh, Fizban«, sagte er. »Dein Hut brennt.«
»Flint«, sagte Tanis ernst, »zum letzten Mal – ich bin genauso traurig wie du, Tolpan verloren zu haben, aber wir können nicht zurück! Er ist mit Fizban zusammen, und wie ich die beiden kenne, werden sie es schaffen, aus jeder Gefahr herauszukommen.«
»Wenn sie nicht dabei die ganze Festung auf uns aufmerksam machen«, murrte Sturm.
Der Zwerg wischte sich über die Augen und sah Tanis wütend an, dann drehte er sich auf dem Absatz um und stapfte in eine Ecke zurück, wo er sich auf den Boden schmiß und schmollte.
Tanis setzte sich wieder. Er wußte, wie Flint zumute war. Es war merkwürdig – es gab so viele Situationen, in denen er den Kender am liebsten erwürgt hätte, aber jetzt, wo er verschwunden war, vermißte Tanis ihn – und genau aus diesen Gründen. Tolpan umgab eine angeborene, nie versiegende Fröhlichkeit, die ihn zu einem wertvollen Gefährten machte. Keine Gefahr konnte den Kender abschrecken, und darum gab er auch niemals auf. Selbst im Notfall war er nie um einen Ausweg verlegen. Er tat zwar nicht immer das Richtige, aber zumindest war er immer zum Handeln bereit. Tanis lächelte traurig. Ich kann nur hoffen, daß dieser Notfall nicht sein letzter sein wird, dachte er.
Die Gefährten ruhten sich eine Stunde lang aus, aßen Quithpa und tranken aus einer Quelle, die sie entdeckt hatten. Raistlin war wieder zu Bewußtsein gekommen, konnte aber nichts essen. Er nippte etwas vom Wasser, dann legte er sich wieder hin. Caramon teilte ihm die Nachricht über Fizbans Verschwinden zögernd mit, da er fürchtete, sein Bruder könnte sich den Verlust zu sehr zu Herzen nehmen. Aber Raistlin zuckte nur die Achseln, schloß die Augen und sank in einen tiefen Schlaf.
Als Tanis sich erholt hatte, ging er zu Gilthanas hinüber, der aufmerksam eine Karte studierte. Er kam an Laurana vorbei, die allein saß, und lächelte sie an. Sie sah weg. Tanis seufzte. Er bereute bereits, so grob mit ihr geredet zu haben. Er mußte zugeben, daß sie sich unter den entsetzlichen Umständen bemerkenswert gut zurechtfand. Sie hatte alles schnell und ohne Fragen getan, was man ihr gesagt hatte. Tanis nahm sich vor, sich bei ihr zu entschuldigen, aber zuerst mußte er mit Gilthanas sprechen.
»Wie sieht’s aus?« fragte er und setzte sich auf eine Kiste.
»Ja, wo sind wir?« fragte Sturm. Bald hatten sich alle um die Karte versammelt, außer Raistlin, der anscheinend schlief. Tanis glaubte jedoch, einen Goldschlitz in den angeblich geschlossenen Lidern des Magiers zu erkennen.
Gilthanas breitete die Karte aus.
»Hier ist die Festung von Pax Tarkas und die umliegenden Erzminen«, sagte er. »Wir sind in den Kellern auf der untersten Ebene. Durch diesen Flur, ungefähr zwanzig Meter von hier entfernt, kommt man in die Räume, in denen die Frauen eingeschlossen sind. Gegenüber liegt ein Wachraum, und hier« – er tippte vorsichtig auf die Karte – »ist die Höhle eines der roten Drachen, den Lord Verminaard Ember nennt. Der Drache ist so groß, daß sich die Höhle über die Bodenebene erstreckt, mit den Gemächern von Lord Verminaard im ersten Stockwerk verbunden ist und weiter bis zum zweiten Stockwerk reicht und dann nach draußen führt.«