Pyros hatte sich an einer Seite des riesigen Thronsaals ausgestreckt. Seine Flügel waren seitlich an den Körper angelegt, seine Klauen hoben sich mit jedem Atemzug wie eine gnomenhafte Maschine. Er döste und schnarchte leise vor sich hin. Eine seltene und kostbare Vase fiel krachend zu Boden. Verminaard sah von seinem Schreibtisch hoch, an dem er eine Karte von Qualinost studierte.
»Verwandel dich, bevor du dieses Zimmer zerstörst«, knurrte er.
Pyros öffnete ein Auge, betrachtete Verminaard einen Moment kühl, dann murmelte er ein magisches Wort.
Der riesenhafte rote Drache begann, wie ein Trugbild zu schimmern, die Drachenform löste sich in den Umriß eines Mannes auf, einer schlanken Figur mit tiefschwarzen Haaren, schmalem Gesicht und schrägen roten Augen. In feuerrote Gewänder gekleidet, schritt Pyros zu einem Schreibtisch in der Nähe von Verminaards Thron. Er nahm Platz, faltete seine Hände und starrte mit unverhohlener Abscheu auf Verminaards breiten, muskulösen Rücken.
An der Tür kratzte es.
»Herein«, befahl Verminaard geistesabwesend.
Eine Drakonierwache warf die Tür auf und ließ Truppführer Toede und seine zwei Gefangenen eintreten, dann zog sie sich zurück und schloß die große goldbronzene Tür. Verminaard ließ den Truppführer mehrere lange Minuten warten, während er weiter seinen Schlachtplan studierte. Dann bedachte er Toede mit einem herablassenden Blick und ging die Stufen zu seinem Thron hoch. Dieser war kunstvoll geschnitzt und dem aufgerissenen Maul eines Drachen nachgebildet.
Verminaard war eine imposante Erscheinung. Groß und kräftig gebaut, trug er eine dunkle nachtblaue Rüstung aus Drachenschuppen mit goldenen Verzierungen. Die entsetzliche Maske des Drachenfürsten verbarg sein Gesicht. Er bewegte sich mit einer Anmut, die für einen solch großen Mann bemerkenswert war. Verminaard lehnte sich behaglich zurück, seine in Leder gehüllte Hand spielte geistesabwesend mit einem schwarzen, goldverzierten Amtsstab.
Verminaard musterte Toede und seine zwei Gefangenen gereizt, da er sehr wohl wußte, daß Toede sich die beiden in der Absicht gefischt hatte, sich von dem verhängnisvollen Verlust der Klerikerin freizukaufen. Als Verminaard von seinen Drakoniern erfahren hatte, daß eine Frau, auf die die Beschreibung der Klerikerin paßte, unter den Gefangenen war und entkommen konnte, war seine Wut furchtbar gewesen. Toede hätte für seinen Fehler fast mit dem Leben bezahlt, aber der Hobgoblin war im Winseln und Kriechen außerordentlich geübt. Verminaard hatte erwogen, Toede an diesem Tag überhaupt nicht zu empfangen, aber in ihm war das seltsame, nagende Gefühl, daß in seinem Reich nicht alles zum besten stand.
Es liegt an dieser verfluchten Klerikerin! dachte Verminaard. Er spürte ihre Macht näher kommen, und das machte ihn nervös. Er musterte aufmerksam die beiden Gefangenen. Als er dann sah, daß auf keinen die Beschreibung derjenigen, die Xak Tsaroth überfallen hatten, paßte, knurrte Verminaard hinter seiner Maske.
Pyros reagierte beim Anblick der Gefangenen anders. Der verwandelte Drache erhob sich halb, während seine mageren Hände den Schreibtisch mit solcher Heftigkeit umklammerten, daß seine Finger Spuren im Holz hinterließen. Er zitterte vor Aufregung und mußte sich bemühen, sich wieder zu setzen und nach außen hin ruhig und gelassen zu erscheinen. Nur seine Augen, die wie Flammen brannten, gaben einen Hinweis auf seine innere Unruhe, als er auf die Gefangenen starrte.
Einer der Gefangenen war der Gossenzwerg Sestun. An seinen Händen und Füßen waren Ketten angelegt (Toede wollte kein Risiko eingehen), und so konnte Sestun kaum laufen. Er stolperte nach vorn und fiel völlig verängstigt vor dem Drachenfürsten auf die Knie. Der andere Gefangene, den Pyros beobachtete, war ein in Lumpen gekleideter Mensch, der auf den Boden starrte.
»Warum belästigst du mich mit diesen erbärmlichen Teufeln Truppführer?« knurrte Verminaard.
Toede, nur noch zitternde Fettmasse, schluckte und fing unverzüglich zu sprechen an. »Dieser Gefangene« – der Hobgoblin versetzte Sestun einen Tritt – »war es, der die Sklaven von Solace befreit hatte, und der andere« – er zeigte auf den Mann, der seinen Kopf hob; nun sah man seinen völlig verwirrten Gesichtsausdruck – »wurde in der Nähe der Stadt Torweg gefunden, zu der, wie Dir wißt, zivile Personen keinen Zugang haben.«
»Und warum bringst du sie zu mir?« fragte Lord Verminaard gereizt. »Wirf sie in die Minen zum restlichen Abschaum.«
Toede stammelte. »Ich dachte, der Mensch ckkönnte ein Ssspion ssein…«
Der Drachenfürst musterte den Menschen aufmerksam. Er war groß gewachsen und gewiß über fünfzig Menschenjahre alt. Sein Haar war weiß und sein glattrasiertes Gesicht braun und wettergegerbt. Er war wie ein Bettler gekleidet, was er womöglich auch war, dachte Verminaard mit Abscheu. Sicher gab es nichts Ungewöhnliches an ihm, außer seinen Augen, die hell und jung wirkten. Auch die Hände wirkten nicht so alt. Vielleicht Elfenblut…
»Der Mann ist geistesschwach«, sagte er schließlich. »Sieh ihn dir an – er glotzt wie ein Fisch auf dem Trockenen.«
»Iich ggglaube, eeer ist, äh, stumm und taub, mein Lord«, sagte Toede schwitzend.
Verminaard zog die Nase kraus. Nicht einmal der Drachenhelm konnte den fauligen Gestank von schwitzenden Hobgoblins abhalten.
»Du hast also einen Gossenzwerg und einen Spion, der weder hören noch sprechen kann, gefangengenommen«, sagte Verminaard sarkastisch. »Gut gemacht, Toede. Vielleicht kannst du jetzt rausgehen und mir einen Blumenstrauß pflücken.«
»Wenn es Euer Lordschaft erfreut«, erwiderte Toede feierlich und verbeugte sich.
Verminaard begann unter seinem Helm zu lachen. Toede war wirklich ein unterhaltsames kleines Ding – ein Jammer, daß er so schwitzte. Verminaard hob seine Hand. »Bring sie weg.«
»Was soll mit den Gefangenen geschehen, mein Lord?«
»Der Gossenzwerg wird heute abend an Ember verfüttert. Und deinen Spion steck in die Minen. Und behalte ihn im Auge – er sieht gefährlich aus!« Der Drachenfürst lachte.
Pyros fletschte die Zähne und verfluchte Verminaard.
Toede verbeugte sich wieder. »Komm her«, knurrte er und zog an den Handfesseln, und der Mann stolperte ihm nach. »Du auch!« Wieder trat er Sestun. Es war sinnlos. Der Gossenzwerg war ohnmächtig geworden, als er gehört hatte, daß er als Drachenfutter dienen sollte. Ein Drakonier wurde gerufen, der ihn wegschleifte.
Verminaard stieg vom Thron und ging zu seinem Schreibtisch. Er verstaute seine Karten in einer Rolle. »Laß dem geflügelten Drachen Botschaften zukommen!« befahl er Pyros. »Morgen früh fliegen wir nach Qualinost und zerstören es. Sei bereit, wenn ich dich rufe.«
Als sich die goldbronzene Tür hinter dem Drachenfürsten schloß, erhob sich Pyros, immer noch in menschlicher Gestalt, vom Schreibtisch und begann, unruhig im Raum auf und ab zu schreiten. Wieder kratzte es an der Tür.
»Lord Verminaard ist in seine Gemächer gegangen!« rief Pyros, über die Störung verärgert.
Die Tür öffnete sich einen Spalt.
»Ihr seid es, den ich zu sprechen wünsche, Majestät«, flüsterte ein Drakonier.
»Tritt ein«, sagte Pyros. »Aber beeil dich.«
»Der Verräter ist erfolgreich, Majestät«, sagte der Drakonier leise. »Er konnte einen Moment wegschlüpfen, ohne Verdacht zu erregen. Aber die Klerikerin ist bei ihm…«
»Zum Abgrund mit der Klerikerin!« schnaubte Pyros.
»Diese Nachricht ist nur für Verminaard interessant. Teile ihm das mit! Nein, warte.« Der Drache hielt inne.
»Wie du angeordnet hast, bin ich erst zu dir gekommen«, sagte der Drakonier entschuldigend und wollte schnell wieder gehen.
»Bleib«, befahl der Drache und hob eine Hand. »Diese Nachricht ist trotz allem wertvoll für mich. Nicht die Klerikerin. Es steht viel mehr auf dem Spiel… Ich muß mich mit unserem verräterischen Freund treffen. Bringe ihn heute nacht zu mir in meine Höhle. Informiere nicht Lord Verminaard – noch nicht. Er könnte alles verderben. Er soll sich lieber mit Qualinost beschäftigen.«