»Du sprichst von ihm, als wäre er schon tot«, sagte Tanis. »Aber er lebt noch.«
»Ja, aber nicht mehr lange.« Maritta wischte eine Träne weg. »Ich kenne diese Krankheit. Mein Vater ist daran gestorben. Irgend etwas in ihm verzehrt ihn. In den letzten Tagen wurde er vor Schmerzen fast wahnsinnig, aber das ist vorbei. Das Ende steht nahe bevor.«
»Vielleicht nicht.« Tanis lächelte. »Goldmond ist Klerikerin. Sie kann ihn heilen.«
»Vielleicht, vielleicht nicht«, antwortete Maritta skeptisch. »Ich würde diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen. Wir sollten Elistan nicht mit falschen Hoffnungen aufregen. Laßt ihn in Frieden sterben.«
»Goldmond«, sagte Tanis, als die Tochter des Stammeshäuptlings näher trat. »Dieser Mann möchte dich kennenlernen.« Er ignorierte Maritta und führte Goldmond zu Elistan. Goldmonds Gesicht, vor Enttäuschung und Niedergeschlagenheit hart und kalt, wurde weicher, als sie den erbärmlichen Zustand des Mannes sah.
Elistan sah zu ihr hoch. »Junge Frau«, sagte er streng, obwohl seine Stimme schwach war. »Du behauptest, Nachricht von den uralten Göttern zu bringen. Wenn es stimmt, daß wir Menschen uns von ihnen abgewandt haben, und nicht sie sich von uns, wie wir immer dachten, warum haben sie dann so lange gewartet, um ihre Anwesenheit zu erkennen zu geben?«
Goldmond kniete sich schweigend zu dem sterbenden Mann, überlegte, wie sie ihre Antwort am besten formulieren konnte. Schließlich sagte sie: »Stell dir vor, du gehst durch einen Wald und trägst deinen wertvollsten Besitz mit dir – einen seltenen und wunderschönen Edelstein. Plötzlich wirst du von einem bösartigen Wesen angegriffen. Du läßt den Edelstein fallen und läufst davon. Als du den Verlust des Edelsteins bemerkst, bist du zu ängstlich, um noch einmal in den Wald zu gehen und nach ihm zu suchen. Dann kommt jemand mit einem anderen Edelstein vorbei. Tief in deinem Herzen weißt du, daß dieser nicht so wertvoll ist wie der verlorene, aber du bist immer noch zu verängstigt, um ihn im Wald zu suchen. Bedeutet das nun, daß der Edelstein den Wald verlassen hat, oder liegt er immer noch da, hell unter den Blättern glänzend und auf deine Wiederkehr wartend?«
Elistan schloß die Augen, seufzte, sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Natürlich, der Edelstein wartet auf unsere Wiederkehr. Was sind wir doch für Dummköpfe! Ich wünschte, ich hätte noch Zeit, von deinen Göttern zu lernen«, sagte er und streckte seine Hand aus.
Goldmond hielt den Atem an, ihr Gesicht wurde blutleer, bis sie fast so blaß war wie der sterbende Mann. »Du wirst die Zeit haben«, sagte sie leise und legte seine Hand in ihre.
Tanis, der in die Begegnung der beiden völlig versunken war, schreckte beunruhigt auf, als er eine Berührung am Arm spürte. Er drehte sich um; es waren Sturm und Caramon.
»Was ist los?« fragte er schnell. »Die Wachen?«
»Noch nicht«, antwortete Sturm barsch. »Aber wir können sie jeden Moment erwarten. Eben und Gilthanas sind verschwunden.«
Die Nacht senkte sich über Pax Tarkas.
Zurück in seiner Höhle hatte der rote Drache Pyros keinen Platz zum Auf- und Ablaufen, eine Eigenart, die er sich angewöhnt hatte, wenn er sich in einen Mensch verwandelte. Er konnte nur seinen riesigen Körper herumdrehen, aber nicht seine Flügel ausbreiten, obwohl er das größte Zimmer in der Festung hatte und es seinetwegen sogar noch vergrößert worden war.
Er zwang sich zu entspannen und legte sich auf den Boden und wartete, seine Augen auf die Tür gerichtet. Er bemerkte nicht die zwei Köpfe, die über das Geländer eines Balkons auf der dritten Ebene spähten.
Es kratzte an der Tür. Pyros hob seinen Kopf in freudiger Erwartung hoch, dann ließ er ihn mit einem Knurren wieder fallen, als zwei Goblins mit einer erbärmlichen Gestalt in ihrer Mitte erschienen.
»Ein Gossenzwerg!« schnarrte Pyros in der Umgangssprache. »Verminaard muß seinen Verstand verloren haben, zu denken, ich fresse Gossenzwerge. Werft ihn in eine Ecke und verschwindet!« knurrte er die Goblins an, die hastig seinen Befehlen nachkamen. Sestun kauerte wimmernd in der Ecke.
»Halt den Mund!« befahl Pyros gereizt. »Vielleicht sollte ich dich einfach nur flambieren, damit dieses Gejammer aufhört…«
Jetzt klopfte es leise an der Tür, ein Geräusch, das der Drache erkannte. Seine Augen leuchteten rot auf. »Herein!«
Eine Gestalt betrat die Höhle des Drachen. Sie war in einen langen Umhang gekleidet, eine Kapuze bedeckte das Gesicht.
»Ich bin gekommen, wie du es befohlen hast, Ember«, sagte die Gestalt leise.
»Ja«, antwortete Pyros, seine Klauen kratzten den Boden.
»Zieh die Kapuze weg. Ich will die Gesichter der Personen sehen, mit denen ich verhandle.«
Der Mann zog seine Kapuze zurück. Von der dritten Ebene kam ein gedämpftes, abgewürgtes Keuchen. Pyros starrte zum dunklen Balkon hoch. Er erwog kurz hochzufliegen, um nachzusehen, aber die Gestalt unterbrach seine Gedanken.
»Ich habe nur wenig Zeit, Majestät. Ich muß zurückkehren, bevor sie Verdacht schöpfen. Und ich sollte Lord Verminaard Bericht erstatten…«
»Zu gegebener Zeit«, schnappte Pyros ärgerlich. »Was für einen Plan schmieden diese Dummköpfe, mit denen du zusammen bist?«
»Sie planen, die Sklaven zu befreien und mit ihnen einen Aufstand anzuzetteln, so daß Verminaard gezwungen ist, seine Armee zurückzurufen, die auf dem Weg nach Qualinost ist.«
»Das ist alles?«
»Ja, Majestät. Jetzt muß ich den Drachenfürsten warnen.«
»Pah! Was bringt das schon! Ich werde schon mit den Sklaven fertig, wenn sie revoltieren. Falls sie gegen mich keine Pläne aushecken.«
»Nein, Majestät. Sie fürchten dich, so wie alle«, fügte die Gestalt hinzu. »Sie warten, bis du und Lord Verminaard nach Qualinost geflogen seid. Dann werden sie die Kinder befreien und in das Gebirge fliehen, bevor ihr zurückkehrt.«
»Dieser Plan scheint ihrer Intelligenz angemessen. Mach dir keine Sorgen um Verminaard. Viel größere Dinge brauen sich zusammen. Viel größere. Jetzt hör genau zu. Heute wurde von diesem schwachsinnigen Toede ein Gefangener vorgeführt…« Pyros hielt inne, seine Augen glühten. Seine Stimme wurde zu einem zischenden Flüstern. »Er ist es! Er ist derjenige, den wir suchen!«
Die Gestalt erstarrte. »Bist du sicher?«
»Natürlich!« schnarrte Pyros böse. »Ich sehe diesen Mann in meinen Träumen! Er ist hier – in meiner Reichweite! Ganz Krynn sucht nach ihm – und ich habe ihn gefunden!«
»Du wirst Ihre Finstere Majestät informieren?«
»Nein. Ich wage nicht, mich einem Boten anzuvertrauen. Ich muß diesen Mann persönlich hinbringen, aber im Moment komme ich nicht weg. Verminaard wird allein nicht fertig mit Qualinost. Auch wenn der Krieg nur eine List ist, müssen wir in Erscheinung treten, und der Welt wird es besser gehen, wenn die Elfen erst einmal ausgerottet sind. Ich werde diesen Ewigan zur Königin bringen, sobald es meine Zeit erlaubt.«
»Warum erzählst du es mir dann?« fragte die Gestalt.
»Weil du auf ihn aufpassen mußt!« Pyros schob seinen Körper in eine bequemere Lage. »Das beweist die Größe der Macht Ihrer Finsteren Majestät, daß die Klerikerin von Mishakal und der Hüter des grünen Juwels zusammen in meiner Reichweite auftauchen! Ich werde Verminaard das Vergnügen erlauben, sich morgen mit der Klerikerin und ihren Freunden zu befassen. In der Tat« – Pyros’ Augen strahlten – »das könnte ganz gut funktionieren! Wir können den Hüter des grünen Edelsteins in der Verwirrung entfernen, und Verminaard wird nichts merken! Wenn die Sklaven angreifen, mußt du diesen Mann finden. Bring ihn hierher, und verstecke ihn in den unteren Gemächern. Wenn alle Menschen vernichtet sind und die Armee Qualinost ausgelöscht hat, werde ich ihn zu meiner Finsteren Königin bringen.«
»Ich verstehe.« Die Gestalt verbeugte sich wieder. »Und meine Belohnung?«
»Alles, was du verdienst. Geh jetzt.«
Der Mann zog wieder seine Kapuze über den Kopf und entfernte sich. Pyros faltete seine Flügel und rollte seinen riesigen Körper samt Schwanz über das Maul und lag, in die Dunkelheit starrend, da. Nur noch Sestuns erbärmliches Wimmern war zu hören.