»Es stört mich nicht.« Der Drache gähnte und öffnete die Augen ein wenig mehr. Jetzt konnte Tanis erkennen, daß er auf einem Auge blind war.
»Hoffentlich müssen wir nicht gegen ihn kämpfen, Tanis«, flüsterte Sturm. »Das wäre, als würden wir gegen eine Großmutter antreten.«
Tanis zwang sich zu einer härteren Miene. »Es ist eine tödliche Großmutter, Sturm. Vergiß das nicht.«
»Die Kleinen hatten eine ruhige Nacht«, murmelte der Drache und schien wieder einzuschlafen. »Achte darauf, daß sie nicht naß werden, falls es zu regnen beginnt, Maritta. Besonders der kleine Erik. Letzte Woche hatte er eine Erkältung.« Er schloß die Augen.
Maritta wandte sich den Gefährten zu und legte einen Finger an den Mund. Sturm und Tanis bildeten das Schlußlicht, die Geräusche von ihren Waffen und Rüstungen wurden durch die vielen Umhänge und Röcke gedämpft. Tanis war ungefähr zehn Meter vom Kopf des Drachen entfernt, als das Surren anhob.
Zuerst dachte er, er würde sich den Lärm einbilden, daß es seine Nervosität wäre. Aber der Lärm wurde lauter und lauter, und Sturm drehte sich um und starrte ihn warnend an. Das surrende Geräusch wurde stärker, bis es sich wie Tausende von schwärmenden Heuschrecken anhörte. Jetzt sahen sich auch die anderen um – alle starrten ihn an! Tanis sah hilflos auf seine Freunde, auf seinem Gesicht lag ein fast komischer Ausdruck der Verwirrung.
Der Drache knurrte und schüttelte sich irritiert, als ob das Geräusch für seine Ohren schmerzhaft wäre.
Plötzlich trat Raistlin aus der Gruppe hervor und lief zu Tanis. »Das Schwert!« zischte er. Er griff nach dem Umhang des Halb-Elfs und warf ihn zurück, um die Klinge zu enthüllen.
Tanis starrte auf das Schwert. Der Magier hatte recht: Die Klinge summte! Jetzt, da Raistlin seine Aufmerksamkeit darauf lenkte, konnte der Halb-Elf die Schwingungen spüren.
»Magie«, sagte der Magier leise und studierte es interessiert.
»Kannst du es aufhalten?« fragte Tanis.
»Nein«, sagte Raistlin. »Aber ich erinnere mich jetzt. Das ist Drachentöter, das berühmte, magische Schwert Kith-Kanans. Es reagiert auf die Gegenwart von Drachen.«
»Das ist aber eine elende Zeit, um sich daran zu erinnern!« erwiderte Tanis wütend.
»Oder die passende Zeit«, knurrte Sturm.
Der Drache hob langsam seinen Kopf, seine Augen blinzelten, eine kleine Rauchwolke strömte aus einem Nasenloch. Er konzentrierte seine verschlafenen Augen auf Tanis, in seinem Blick lagen Schmerz und Verärgerung.
»Wen hast du da mitgebracht, Maritta?« Matafleurs Stimme hörte sich bedrohlich an. »Ich höre etwas, was ich seit Jahrhunderten nicht mehr gehört habe, ich rieche den widerlichen Gestank von Eisen! Das sind nicht die Frauen! Das sind Krieger!«
»Verletzt ihn nicht!« jammerte Maritta.
»Vielleicht bleibt mir keine andere Wahl!« sagte Tanis heftig und zog Drachentöter aus seiner Scheide. »Flußwind und Goldmond, bringt Maritta hier raus!« Die Klinge begann in einem leuchtendweißen Licht zu glimmen, während das Summen immer lauter und wütender wurde. Matafleur wich zurück. Das Licht des Schwertes drang schmerzhaft in ihr gesundes Auge; der schreckliche Ton fuhr wie ein Speer durch ihren Kopf. Wimmernd kroch sie von Tanis weg.
»Lauft, holt die Kinder!« gellte Tanis, dem klar wurde, daß sie vielleicht doch nicht kämpfen mußten. Er hob das glänzende Schwert hoch in die Luft, bewegte sich vorsichtig vorwärts und trieb den erbarmungswürdigen Drachen zurück an die Wand.
Maritta führte Goldmond nach einem ängstlichen Blick auf Tanis zum Kinderzimmer. Über hundert Kinder waren hier und starrten ihnen mit weit aufgerissenen Augen entgegen, beunruhigt über die seltsamen Geräusche im Nebenraum. Ihre Gesichter entspannten sich beim Anblick von Maritta und Goldmond, und einige kleinere kicherten, als Caramon mit wehenden Röcken herbeieilte. Aber der Anblick der Rüstungen darunter und der gezogenen Waffen ernüchterte die Kinder sofort.
»Was ist los, Maritta?« fragte das älteste Mädchen. »Was ist passiert? Wird wieder gekämpft?«
»Wir hoffen, daß es nicht dazu kommt, meine Liebe«, antwortete Maritta leise. »Aber ich will euch nicht anlügen – auszuschließen ist es nicht. Jetzt möchte ich, daß ihr eure Sachen zusammensucht, besonders warme Mäntel, und mit uns kommt. Die Älteren tragen die Kleinen, so wie ihr es auch sonst macht.«
Sturm hatte Verwirrung, Geplärre und Fragen erwartet. Aber die Kinder kamen schnell ihren Anordnungen nach, zogen sich warm an und halfen den Jüngeren. Sie waren alle ruhig und gelassen, nur ein bißchen blaß. Das sind Kinder des Krieges, dachte Sturm.
»Ich möchte, daß ihr schnell durch die Höhle des Drachen und in das Spielzimmer geht. Wenn wir dort sind, wird euch der große Mann« – Sturm zeigte auf Caramon – »in den Hof führen. Eure Mütter warten bereits auf euch. Wenn ihr draußen seid, sucht sofort eure Mütter und geht zu ihnen. Habt ihr alle verstanden?« Er sah zweifelnd auf die kleineren Kinder, aber das Mädchen in der ersten Reihe nickte.
»Wir verstehen, Herr«, sagte sie.
»In Ordnung.« Sturm drehte sich um. »Caramon?«
Der Krieger, der vor Verlegenheit errötete, als hundert Augenpaare ihn ansahen, führte sie durch die Drachenhöhle. Goldmond nahm ein Kleinkind auf den Arm, Maritta ein weiteres. Die älteren Jungen und Mädchen trugen die Kleineren auf ihren Rücken. Sie eilten geordnet nacheinander aus der Tür, ohne ein Wort zu sagen, bis sie Tanis, das glänzende Schwert und den verängstigten Drachen sahen.
»He du! Tu dem Drachen nicht weh!« schrie ein kleiner Junge. Das Kind verließ die Reihe und rannte mit erhobenen Fäusten auf Tanis zu.
»Dugle!« schrie das ältere Mädchen entsetzt. »Komm sofort zurück!« Aber jetzt weinten einige Kinder.
Tanis, noch immer mit erhobenem Schwert, da er nur so den Drachen aufhalten konnte, schrie: »Führt sie hier raus!«
»Kinder, bitte!« Die Tochter des Stammeshäuptlings brachte mit ihrer strengen Stimme Ordnung in das Chaos. »Tanis wird dem Drachen nur dann etwas tun, wenn es wirklich notwendig ist. Ihr müßt jetzt gehen. Eure Mütter warten auf euch.«
In Goldmonds Stimme lag eine Spur Angst, ein Gefühl der Dringlichkeit, das sogar das jüngste Kind spürte. Sie stellten sich wieder ordentlich auf.
»Auf Wiedersehen, Flammenschlag«, riefen einige Kinder traurig und winkten dem Drachen zu, als sie Caramon folgten. Dugle warf Tanis einen letzten drohenden Blick zu, dann ging auch er zur Gruppe zurück und wischte sich mit seinen schmutzigen Fäusten die Augen.
»Nein!« kreischte Matafleur mit herzzerreißender Stimme. »Nein! Kämpft nicht gegen meine Kinder. Bitte! Ihr wollt mich doch! Kämpft gegen mich! Tut meinen Kindern nichts an!«
Tanis wurde klar, daß der Drache in seine Vergangenheit versetzt war und noch einmal die schreckliche Erfahrung durchmachte, seine Kinder zu verlieren.
Sturm stand neben Tanis. »Er wird dich töten, sobald sich die Kinder außer Gefahr befinden.«
»Ja«, bestätigte Tanis grimmig. Die Augen, sogar das blinde, des Drachen flackerten bereits rot. Speichel tropfte aus dem riesigen geöffneten Maul, und seine Klauen kratzten den Boden.
»Nicht meine Kinder!« erklärte er zornig.
»Ich bleibe bei dir…«, begann Sturm und zog sein Schwert.
»Laß uns allein, Ritter«, flüsterte Raistlin sanft aus den Schatten. »Deine Waffe ist nutzlos. Ich bleibe bei Tanis.«
Der Halb-Elf sah den Magier erstaunt an. Raistlins seltsam goldene Augen trafen seine, wußten, was er dachte: Soll ich ihm trauen? Raistlin gab ihm keine Hilfe, als ob er ihn zur Ablehnung anstacheln wollte.
»Geh raus«, befahl Tanis Sturm.
»Was?« gellte er. »Bist du verrückt? Du willst diesem…«
»Geh raus«, wiederholte Tanis. In diesem Moment hörte er Flint laut rufen: »Komm, Sturm, du wirst hier gebraucht!«
Der Ritter stand einen Augenblick unentschlossen da, aber er konnte den direkten Befehl einer Person, die er als Anführer anerkannt hatte, nicht mißachten, ohne seine Ehre zu verlieren. Er warf Raistlin einen haßerfüllten Blick zu, dann drehte er sich auf dem Absatz um und trat in den Tunnel.