»Ich werde freiwillig kommen«, flüsterte Raistlin. »Nur wagt es nicht, mich zu berühren!«
»Nein, natürlich nicht«, murmelte Toede. »Holt ihn.«
Die Goblins, die unbehagliche Blicke in Richtung des Truppführers warfen, ließen den Magier neben seinem Bruder stehen.
»Sind das alle?« fragte Toede gereizt. »Dann nehmt ihre Waffen und ihr Gepäck.«
Um weiteren Ärger zu vermeiden, nahm Tanis seinen Bogen von der Schulter und legte ihn zusammen mit dem Köcher auf den rußigen Boden der Gaststube. Tolpan legte schnell seinen Hupak dazu, der Zwerg murrend seine Streitaxt. Die anderen folgten Tanis’ Beispiel, außer Sturm, der mit über der Brust gekreuzten Armen dastand und…
»Bitte, darf ich meinen Beutel behalten?« fragte Goldmond. »Ich habe keine Waffen und nichts, was für euch wertvoll ist. Ich schwöre es!«
Die Gefährten wandten sich ihr zu – sie dachten an die wertvollen Scheiben in ihrem Beutel. Alle standen in angespanntem Schweigen. Flußwind trat zu Goldmond. Er hatte seinen Bogen abgelegt, trug aber wie der Ritter sein Schwert.
Plötzlich griff Raistlin ein. Der Magier hatte seinen Stab abgelegt, seine Beutel mit den Zauberzutaten und die wertvolle Tasche mit den Zauberbüchern. Er machte sich keine Sorgen – über den Büchern lagen Sicherungszauber: Jeder, außer dem Besitzer, würde bei dem Versuch, in ihnen zu lesen, wahnsinnig werden. Und der Zauberstab konnte selbst auf sich aufpassen. Raistlin streckte seine Hände Goldmond entgegen.
»Gib ihnen den Beutel«, sagte er sanft. »Sonst werden sie uns töten.«
»Beherzige seinen Rat, meine Liebe«, rief Toede hastig.
»Er ist ein Verräter!« rief Goldmond und umklammerte den Beutel.
»Gib ihnen den Beutel«, wiederholte Raistlin hypnotisierend.
Goldmond wurde schwächer und spürte seine seltsame Macht. »Nein!« Sie würgte. »Das ist unsere Hoffnung…«
»Es wird alles gut werden«, flüsterte Raistlin und sah intensiv in ihre klaren blauen Augen. »Erinnerst du dich an den Stab? Erinnerst du dich daran, als ich ihn berührte?«
Goldmond blinzelte. »Ja«, murmelte sie. »Du hast einen Schock bekommen…«
»Psst«, warnte Raistlin sie schnell. »Gib ihnen den Beutel. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Die Götter beschützen ihr Eigentum.«
Goldmond starrte auf den Magier, dann nickte sie widerstrebend. Raistlin streckte seine mageren Hände aus, um ihr den Beutel abzunehmen. Truppführer Toede blickte ihn gierig an und machte sich über den Inhalt Gedanken. Er würde es schon herausfinden, aber nicht vor allen Goblins.
Schließlich gab es nur noch eine Person, die dem Befehl nicht gehorcht hatte. Sturm stand unbeweglich da, sein Gesicht war blaß, seine Augen glänzten fiebrig. Er hielt das uralte zweihändige Schwert seines Vaters eng an sich gedrückt. Plötzlich drehte Sturm sich um, entsetzt, Raistlins brennende Finger auf seinem Arm zu spüren.
»Ich versichere dir, es wird ihm nichts geschehen«, flüsterte der Magier.
»Wie?« fragte der Ritter und wich vor Raistlin zurück wie vor einer Giftschlange.
»Ich erkläre dir nicht meine Methoden«, zischte Raistlin. »Entweder du vertraust mir oder nicht.«
Sturm zögerte.
»Das ist lächerlich!« kreischte Toede. »Tötet den Ritter! Tötet sie alle, wenn sie noch mehr Ärger machen. Meine Geduld ist zu Ende!«
»Na schön!« sagte Sturm mit erstickter Stimme. Er ging zu dem Waffenhaufen und legte sein Schwert ehrfürchtig dazu.
»Ah, wahrhaftig eine wunderschöne Waffe«, sagte Toede. Er hatte plötzlich eine Vision, wie er zu einer Audienz mit Lord Verminaard schritt, das Schwert des solamnischen Ritters an seiner Seite hängend. »Vielleicht sollte ich es persönlich in Gewahrsam nehmen. Bringt…«
Bevor er den Satz beenden konnte, trat Raistlin schnell nach vorne und kniete neben den Waffen nieder. Ein Licht blitzte aus der Hand des Magiers auf. Raistlin schloß die Augen und begann seltsame Worte zu murmeln, während er seine ausgebreiteten Arme über die Waffen und das Gepäck hielt.
»Haltet ihn auf!« schrie Toede. Aber keiner wagte es.
Schließlich hatte Raistlin aufgehört zu sprechen, sein Kopf fiel auf seine Brust. Sein Bruder eilte herbei, um ihm zu helfen.
Raistlin erhob sich. »Damit ihr es wißt!« sagte der Magier, seine goldenen Augen blickten sich im Schankraum um. »Ich habe auf unsere Sachen einen Zauber gelegt. Sobald jemand sie berührt, wird er langsam vom großen Wurm Catyrpelius verschlungen, der sich aus dem Abgrund erheben und euer Blut aussaugen wird, bis ihr völlig ausgetrocknet seid.«
»Der große Wurm Catyrpelius!« keuchte Tolpan mit glänzenden Augen. »Das ist ja unglaublich. Ich habe niemals von…«
Tanis drückte ihm seine Hand auf den Mund.
Die Goblins wichen vor dem Waffenhaufen zurück, der in einer grünen Aura fast zu glühen schien.
»Holt die Waffen!« befahl Toede wütend.
»Hol du sie doch selber«, murrte ein Goblin.
Niemand bewegte sich. Toede war am Ende. Obwohl er keine besondere Vorstellungskraft besaß, konnte er sich den großen Wurm Catyrpelius lebhaft vorstellen. »Na schön«, maulte er, »schafft die Gefangenen weg! Sperrt sie in die Käfige. Und schafft diese Waffen weg, oder ihr werdet euch noch wünschen, von diesem Wurm ausgesaugt zu werden!« Wütend stampfte er von dannen.
Die Goblins schoben ihre Gefangenen mit den Schwertern zur Tür hinaus, jedoch niemand berührte Raistlin.
»Das ist ein wunderbarer Zauber, Raist«, sagte Caramon leise. »Wie wirkungsvoll ist er? Könnte er…«
»Er ist genauso wirkungsvoll wie dein Verstand!« flüsterte Raistlin und hielt seine rechte Hand hoch. Als Caramon die verräterischen schwarzen Zeichen von Feuerpulver sah, lächelte er grimmig im plötzlichen Verstehen.
Tanis verließ als letzter das Wirtshaus.
Er sah sich ein letztes Mal um. Nur noch eine Lampe hing an der Decke. Tische waren umgestürzt, Stühle zerbrochen. Die Deckenbalken waren vom Feuer geschwärzt, einige waren völlig verkohlt. An den Fenstern schmierte fettiger schwarzer Ruß.
»Fast wünschte ich, ich wäre gestorben, und mir wäre dieser Anblick erspart geblieben.«
Das letzte, was er hörte, war der hitzige Streit zwischen zwei Hobgoblinhauptmännern über den Transport der verzauberten Waffen.
3
Die Sklavenkarawane. Ein seltsamer alter Magier
Die Gefährten verbrachten eine eiskalte, schlaflose Nacht, eingepfercht in einen mit Eisenstangen versehenen Käfigwagen auf dem Marktplatz von Solace. Jeweils drei Käfige waren an einem Pfosten zusammengekettet. Die Holzpfosten waren vom Feuer und der Hitze schwarz. Auf dem Platz wuchs nichts mehr, selbst die Steine waren schwarz und teilweise geschmolzen.
Als die Morgendämmerung anbrach, konnten sie andere Gefangene in den anderen Käfigen sehen. Es war die letzte Sklavenkarawane von Solace nach Pax Tarkas. Der Truppführer persönlich wollte sie führen. Toede hatte sich entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und Lord Verminaard zu beeindrucken, der sich zur Zeit in Pax Tarkas aufhielt.
Caramon hatte in der Nacht einmal versucht, die Stangen auseinanderzubiegen, und hatte aufgeben müssen.
Ein kalter Nebel zog in den frühen Morgenstunden auf und verhüllte die verwüstete Stadt vor den Gefährten. Tanis blickte zu Goldmond und Flußwind hinüber. Jetzt verstehe ich sie, dachte Tanis. Jetzt verstehe ich die eisige Leere im Herzen, die mehr verletzt als jeder Schwertstoß. Auch ich habe kein Zuhause mehr.
Er blickte zu Gilthanas, der in einer Ecke kauerte. Der Elf hatte in der Nacht mit niemandem ein Wort gesprochen und sich damit entschuldigt, daß sein Kopf schmerzen würde und er müde sei. Aber Tanis, der die ganze Nacht Wache gehalten hatte, hatte gesehen, daß Gilthanas weder geschlafen noch den Versuch dazu unternommen hatte. Er hatte an seiner Unterlippe gekaut und in die Dunkelheit hinausgestarrt. Sein Anblick erinnerte Tanis daran, daß er – falls er es beanspruchen würde – noch einen anderen Ort als sein Zuhause bezeichnen konnte: Qualinesti.