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»Nun gut«, sagte Tanis schweratmend. »Mich würdest du, ohne einen zweiten Gedanken zu verlieren, töten. Aber du würdest deinen Bruder nicht verletzen. Caramon, halte ihn auf!«

Caramon trat einen Schritt zu seinem Bruder. Raistlin hob warnend den silbernen Dolch.

»Mach das nicht, mein Bruder«, sagte er sanft. »Komm nicht näher.«

Caramon zögerte.

»Geh weiter, Caramon!« sagte Tanis bestimmt. »Er wird dich nicht verletzen.«

»Erzähl es ihm, Caramon«, flüsterte Raistlin. Die Augen des Magiers starrten in die seines Bruders. Seine Stundenglasaugen weiteten sich, das goldene Licht flackerte gefährlich auf.

»Erzähl Tanis, wozu ich in der Lage bin. Erinnere dich. So wie ich mich erinnere. Diese Erinnerung kommt immer wieder, sobald wir uns ansehen, nicht wahr, mein lieber Bruder?«

»Was soll er mir erzählen?« fragte Tanis, der nur halb zuhörte. Wenn er Raistlin ablenken konnte… sich auf ihn stürzen…

Caramon wurde leichenblaß. »Die Türme der Erzmagier…« Er stammelte. »Aber uns wurde verboten, darüber zu sprechen! Par-Salian hat gesagt…«

»Das ist jetzt egal«, unterbrach ihn Raistlin. »Es gibt nichts, was Par-Salian mir anhaben könnte. Wenn ich erst einmal besitze, was mir versprochen wurde, dann wird nicht einmal der große Par-Salian die Macht haben, mir gegenüberzutreten! Aber das ist nicht euer Problem.«

Raistlin holte tief Luft, dann begann er zu sprechen, seine seltsamen Augen waren immer noch auf seinen Bruder gerichtet. Tanis, der nur halb zuhörte, schlich sich näher, sein Herz pochte in seiner Kehle. Eine schnelle Bewegung, und der zerbrechliche Magier würde stürzen… Dann wurde Tanis von Raistlins Stimme festgehalten, gezwungen, einen Moment stehenzubleiben und zuzuhören, fast als ob Raistlin einen Zauber geworfen hätte.

»Die letzte Prüfung im Turm der Erzmagier, Tanis, war gegen mich selbst gerichtet. Und ich habe versagt. Ich habe ihn getötet, Tanis. Ich habe meinen Bruder getötet«, Raistlins Stimme klang gelassen, »oder zumindest dachte ich, es wäre Caramon.« Der Magier zuckte die Schultern. »Wie sich herausstellte, hatten sie diese Illusion geschaffen, damit ich die Tiefen meines Hasses und meiner Eifersucht erkenne. Sie glaubten, auf diese Weise meine Seele von der Dunkelheit zu reinigen. Aber was ich in Wirklichkeit gelernt habe, war, daß mir jede Selbstbeherrschung fehlt. Da dies jedoch nicht Teil der wahren Prüfung war, wurde mein Versagen nicht angerechnet mit Ausnahme von einer Person.«

»Ich habe beobachtet, wie er mich getötet hat!« weinte Caramon jämmerlich. »Sie ließen mich beobachten, damit ich ihn verstehen würde!« Der Mann schlug die Hände vor sein Gesicht, sein Körper zuckte in einem Schauder. »Ich verstehe es!« schluchzte er. »Ich habe es dann verstanden! Es tut mir leid! Aber geh nicht ohne mich, Raist! Du bist so schwach! Du brauchst mich…«

»Nicht mehr, Caramon«, flüsterte Raistlin mit einem sanften Seufzen. »Ich brauche dich nicht mehr!«

Tanis starrte beide an, ihm war vor Entsetzen übel. Er konnte es nicht glauben! Nicht einmal von Raistlin! »Caramon, geh weiter!« befahl er heiser.

»Bring ihn nicht dazu, näher zu kommen, Tanis«, sagte Raistlin. Seine Stimme war liebenswürdig, als ob er Tanis’

Gedanken gelesen hätte. »Ich versichere dir – ich bin dazu fähig. Was ich mein ganzes Leben lang gesucht habe, ist jetzt in meiner Reichweite. Ich werde nicht zulassen, daß man mich aufhält. Sieh Caramon an, Tanis. Er weiß es! Ich habe ihn einst getötet. Ich kann es wieder tun. Leb wohl, mein Bruder.«

Der Magier legte beide Hände auf die Kugel der Drachen und hielt sie hoch zu der flackernden Kerze. Die Farben wirbelten wie irre in der Kugel. Eine mächtige, magische Aura legte sich um den Magier.

Tanis kämpfte gegen seine Angst, während er seinen Körper anspannte, um in einem letzten verzweifelten Versuch Raistlin aufzuhalten. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er hörte Raistlin seltsame Worte singen. Das funkelnde, wirbelnde Licht wurde so hell, daß es seinen Kopf durchdrang. Er bedeckte seine Augen mit den Händen, aber das Licht brannte sich durch sein Fleisch, versengte sein Gehirn. Der Schmerz war unerträglich. Er stolperte zurück gegen den Türrahmen, hörte Caramon neben sich qualvoll aufschreien und den Körper des Mannes mit einem dumpfen Aufschlag auf den Boden fallen. Dann war alles still, die Kabine war in Dunkelheit getaucht. Zitternd öffnete Tanis die Augen. Einen Moment lang konnte er außer dem Nachbild einer riesigen roten Kugel, die in sein Gehirn eingebrannt war, nichts sehen. Dann gewöhnten sich seine Augen an die eisige Dunkelheit. Die Kerze tropfte, heißes Wachs tröpfelte auf den Holzboden der Kabine und bildete eine weiße Pfütze neben Caramon, der bewegungslos dalag. Die Augen des Kriegers waren weit aufgerissen und starrten ausdruckslos in das Nichts. Raistlin war verschwunden. Tika Waylan stand am Deck der Perechon und starrte in das blutrote Meer und versuchte angestrengt, nicht zu weinen. Du mußt tapfer sein, sagte sie sich immer wieder. Du hast gelernt, tapfer in der Schlacht zu kämpfen. Caramon sagte das. Jetzt mußt du auch tapfer sein. Zumindest werden wir jetzt Zusammensein, zusammen sterben. Er darf mich nicht weinen sehen.

Aber die vergangenen vier Tage waren für alle nervenaufreibend gewesen. Vor Angst, von den Drakoniern in Treibgut entdeckt zu werden, hatten sich die Gefährten in der schmuddeligen Herberge versteckt gehalten. Tanis’ seltsames Verschwinden hatte sie verängstigt. Sie waren hilflos, wagten nichts, nicht einmal, nach ihm zu fragen. Lange Tage waren sie gezwungen gewesen, in ihren Räumen zu bleiben, und Tika mußte sich ständig in Caramons Nähe aufhalten. Die Anspannung, die starke Anziehung, die zwischen ihnen bestand, nicht ausdrücken zu können, war eine Qual gewesen. Sie wollte ihre Arme um Caramon legen, seine Arme um sich spüren, seinen starken, muskulösen Körper an ihren drücken. Caramon wollte das gleiche, dessen war sie sich sicher. Er sah sie manchmal mit solch einer Zärtlichkeit in seinen Augen an, daß sie sich danach sehnte, sich eng an ihn zu schmiegen und seine Liebe zu teilen, um die sie wußte.

Aber das würde nie der Fall sein, nicht, solange sich Raistlin in der Nähe seines Zwillingsbruders aufhielt und an Caramon wie ein zerbrechlicher Schatten klebte. Immer wieder wiederholte sie Caramons Worte, die er ihr gesagt hatte, bevor sie Treibgut erreicht hatten.

»Meine Verpflichtung liegt bei meinem Bruder. Im Turm der Erzmagier sagten sie mir, daß seine Kraft helfen würde, die Welt zu retten. Ich bin seine Stärke – seine körperliche Stärke. Er braucht mich. Meine erste Pflicht liegt bei ihm, und solange sich das nicht ändert, kann ich keine anderen Verpflichtungen eingehen. Du hast jemanden verdient, bei dem du an erster Stelle stehst, Tika. Und darum gebe ich dich frei, damit du so einen Mann findest.«

Aber ich will keinen anderen, dachte Tika traurig. Und dann liefen wieder die Tränen. Sie drehte sich schnell um, um sie vor Goldmond und Flußwind zu verbergen. Sie würden es falsch verstehen und denken, daß sie vor Angst weinte. Nein, die Angst vor dem Sterben war etwas, was sie vor langer Zeit besiegt hatte. Ihre größte Angst war, allein zu sterben. Was machen sie? fragte sie sich verzweifelt und wischte ihre Tränen weg. Das Schiff trieb immer näher auf das schreckliche dunkle Auge zu. Wo war Caramon? Ich muß sie finden, entschied sie. Tanis oder nicht. Dann sah sie Tanis langsam nach oben kommen, Caramon halb mit sich zerrend, halb tragend. Ein Blick auf das blasse Gesicht des Kriegers genügte, um Tikas Herz aussetzen zu lassen.