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»Ja, Meister«, murmelte Bertram und verließ das Zimmer. Der Ästhet schloß die Tür hinter sich und eilte durch die kühlen, stillen Marmorhallen der uralten Bibliothek, seine Augen vor Staunen über dieses Ereignis weit geöffnet. Seine schwere Robe fegte hinter ihm über den Boden, sein rasierter Kopf glitzerte vom Schweiß, als er rannte, nicht an diese Anstrengung gewöhnt. Die anderen des Ordens sahen ihn erstaunt an, als er in die Eingangshalle der Bibliothek sauste. Er blickte schnell durch die Glasscheibe in der Tür und konnte den jungen Mann auf den Stufen erkennen.

»Uns wurde befohlen, ihn hereinzubringen«, sagte Bertram den anderen. »Astinus wird heute Abend den jungen Mann sehen, vorausgesetzt, der Magier ist dann noch am Leben.«

Die Ästheten sahen sich in stummer Bestürzung an, sich fragend, welche Vorbedeutung wohl in dieser Entscheidung lag. Ich sterbe.

Dieses Wissen war für den Magier schmerzlich. Raistlin lag in einem Bett in einer kalten, weißen Zelle, wohin ihn die Ästheten gebracht hatten, und verfluchte seinen zerbrechlichen Körper, verfluchte die Prüfungen, die ihn zerstört hatten, verfluchte die Götter, die ihm dieses Los aufgebürdet hatten. Er fluchte, bis er keine Worte mehr fand, bis er selbst zum Denken zu erschöpft war. Und dann lag er unter den weißen Leinentüchern und spürte sein Herz wie einen gefangenen Vogel in seiner Brust flattern.

Zum zweiten Mal in seinem Leben fühlte sich Raistlin allein und verängstigt. Er war nur einmal zuvor allein gewesen, und das war während jener drei qualvollen Prüfungstage im Turm der Erzmagier gewesen. Selbst dort, war er da wirklich allein gewesen? Er glaubte es nicht, obwohl er sich nicht deutlich erinnern konnte. Die Stimme… die Stimme, die manchmal zu ihm sprach, die Stimme, die er nicht erkennen konnte, jedoch zu kennen schien… Er verband die Stimme immer mit dem Türm. Sie hatte ihm dort geholfen, so wie sie ihm seitdem geholfen hatte. Mit Hilfe dieser Stimme hatte er die schwere Prüfung überlebt.

Aber jetzt würde er nicht überleben, das wußte er. Die magische Transformation, der er sich unterzogen hatte, war eine zu große Anstrengung für seinen schwachen Körper gewesen. Die Ästheten hatten ihn zusammengekauert und blutspuckend auf ihren Stufen vorgefunden. Auf ihre Fragen hatte er es noch fertiggebracht, den Namen von Astinus und seinen eigenen auszustoßen. Dann hatte er das Bewußtsein verloren. Als er erwachte, fand er sich in dieser kalten kleinen Mönchszelle wieder. Und mit dem Erwachen kam das Wissen, daß er im Sterben lag. Er hatte mehr von seinem Körper gefordert, als zu geben er in der Lage gewesen war. Die Kugel der Drachen könnte ihn retten, aber er hatte nicht mehr die Kraft, seine Magie anzuwenden. Die Zauberworte waren aus seinem Gedächtnis entschwunden.

Ich bin sowieso zu schwach, um ihre gewaltige Macht zu kontrollieren, wurde ihm klar. Wenn sie erst einmal weiß, daß ich meine Kraft verloren habe, wird sie mich vernichten. Nein, es blieb ihm nur noch eine Chance – die Bücher in der großen Bibliothek. Die Kugel der Drachen hatte ihm versichert, daß diese Bücher die Geheimnisse der uralten Magier enthielten, großer, mächtiger Magier, wie man sie auf Krynn nie wieder gesehen hatte. Vielleicht konnte er in ihnen das Mittel finden, um sein Leben zu verlängern. Er mußte mit Astinus sprechen! Er mußte Zutritt zur großen Bibliothek erhalten, hatte er die hochmütigen Ästheten angeschrien. Aber sie hatten nur genickt.

»Astinus wird dich besuchen«, sagten sie, »heute Abend, wenn er Zeit hat.«

Wenn er Zeit hat, fluchte Raistlin böse. Wenn ich noch so lange Zeit habe! Er spürte den Sand seines Lebens durch seine Finger rinnen, aber er konnte ihn nicht aufhalten.

Die Ästheten, die ihn mitleidig betrachteten, da sie nicht wußten, was sie für ihn tun konnten, brachten Raistlin Essen, aber er konnte nichts essen. Er konnte nicht einmal die bittere Kräutermedizin schlucken, die seinen Husten linderte. Wütend schickte er diese Narren weg. Dann sank er auf sein hartes Kissen zurück und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen in seine Zelle krochen. Raistlin brachte seine ganze Kraft auf, um am Leben zu bleiben, zwang sich zu entspannen, denn diese fieberhafte Wut würde ihn verzehren. Seine Gedanken gingen zu seinem Bruder.

Raistlin schloß erschöpft die Augen und stellte sich vor, daß Caramon neben ihm saß. Er konnte fast Caramons Arme spüren, die ihn hochhoben, damit er besser atmen konnte. Er konnte Caramons typischen Geruch von Schweiß, Leder und Stahl riechen. Caramon würde sich um ihn kümmern. Caramon würde ihn nicht sterben lassen…

Nein, dachte Raistlin verträumt. Caramon ist jetzt tot. Sie sind alle tot, diese Narren. Ich muß jetzt auf mich aufpassen. Plötzlich spürte er, daß er wieder das Bewußtsein verlor. Verzweifelt kämpfte er dagegen an, aber es war eine verlorene Schlacht. Mit einer letzten Anstrengung schob er seine zitternde Hand in eine Tasche seiner Robe. Seine Finger schlossen sich um die Kugel der Drachen, die zur Größe einer Murmel geschrumpft war. Aber er war schon in die Dunkelheit gesunken.

Er erwachte durch Stimmengeräusche und durch das Wissen, daß jemand in der Zelle stand. Raistlin kämpfte sich durch Schichten der Schwärze, bis er an die Oberfläche des Bewußtseins gelangte und die Augen öffnen konnte.

Es war abends. Lunitaris rotes Licht leuchtete wie ein schimmernder Blutfleck durch das Fenster. Eine Kerze brannte, und er sah zwei Männer neben seinem Bett stehen. Einen erkannte er als den Ästheten wieder, der ihn gefunden hatte. Der andere? Er kam ihm vertraut vor…

»Er wird wach, Meister«, bemerkte der Ästhet.

»Das tut er«, bemerkte der Mann gelassen. Er beugte sich hinunter und musterte das Gesicht des jungen Magiers, dann lächelte er und nickte, als ob endlich jemand angekommen wäre, den er lange Zeit erwartet hätte. Es war ein merkwürdiger Blick, und er wurde von Raistlin und dem Ästheten bemerkt.

»Ich bin Astinus«, sagte er, »und du bist Raistlin aus Solace.«

»Ja, das stimmt.« Raistlins Mund formte die Worte, seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Als er zu Astinus hochblickte, kehrte seine Wut zurück bei der Erinnerung an die gefühllose Bemerkung des Mannes, daß er ihn besuchen wolle, wenn er Zeit habe. Während er den Mann anstarrte, überfiel ihn ein Kälteschauer. Noch nie hatte er solch ein Gesicht gesehen, so kalt und gefühllos, bar jeden Gefühls und menschlicher Leidenschaft. Ein Gesicht, unberührt von der Zeit…

Raistlin keuchte. Mit Hilfe des Ästheten versuchte er sich aufzurichten und starrte Astinus weiter an.

Als Astinus Raistlins Reaktion bemerkte, sagte er: »Du siehst mich so seltsam an, junger Magier. Was siehst du mit diesen Stundenglasaugen?«

»Ich sehe… einen Mann… der nicht stirbt…« Raistlin konnte während seiner schmerzvollen Versuche, Atem zu holen, kaum sprechen.

»Natürlich, was hast du denn erwartet?« tadelte der Ästhet, während er den sterbenden Mann sanft mit Kissen stützte. »Der Meister war hier, um die Geburt des ersten auf Krynn niederzuschreiben, und er wird auch hier sein, um den Tod des letzten niederzuschreiben. So lehrte es uns Gilean, der Gott der Schriften.«

»Ist das wahr?« flüsterte Raistlin.

Astinus zuckte die Achseln. »Meine persönliche Geschichte ist ohne Bedeutung im Vergleich zur Geschichte der Welt. Jetzt sprich, Raistlin aus Solace. Was willst du von mir? Ich kann meine Zeit nicht im müßigen Gespräch mit dir verschwenden.«

»Ich frage… ich bitte… um einen Gefallen!« Die Worte wurden aus Raistlins Brust gerissen und kamen blutbefleckt hervor. »Mein Leben… ist auf wenige Stunden… begrenzt. Laß sie mich… mit Studien… in der… großen Bibliothek verbringen!«

Bertram biß sich vor Bestürzung über die Frechheit des jungen Magiers auf die Zunge. Er blickte ängstlich zu Astinus und erwartete eine vernichtende Antwort, die mit Sicherheit diesen jungen, unbesonnenen Mann zur Vernunft bringen würde. Lange Augenblicke des Schweigens verstrichen, die nur von Raistlins mühsamen Atemzügen unterbrochen wurden. Astinus’