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»So endet also deine Reise, mein alter Freund«, sagt Astinus ohne jedes Mitgefühl.

Raistlin hob seinen Kopf, seine goldenen Augen glänzten fiebrig. »Du kennst mich! Wer bin ich?« fragte er.

»Es ist nicht mehr wichtig«, sagte Astinus. Er drehte sich um und schickte sich an, den Raum zu verlassen.

Hinter ihm ertönte ein durchdringendes Kreischen, eine Hand griff nach seinem Gewand und brachte ihn zum Stehen.

»Dreh mir nicht deinen Rücken zu, so wie du ihn der Welt zugedreht hast!« knurrte Raistlin.

»Meinen Rücken der Welt zugedreht…«, wiederholte der Chronist leise, sein Gesicht drehte sich dem Magier zu.

»Meinen Rücken der Welt zugedreht!« Aus Astinus’ kalter Stimme war selten eine Emotion herauszuhören, aber jetzt drang seine Wut in seine friedliche, gelassene Seele ein wie ein Stein, den man in stilles Wasser geschleudert hat.

»Ich? Meinen Rücken der Welt zugedreht?« Astinus’ Stimme rollte wie der Donner, den er zuvor gehört hatte. »Ich bin die Welt, was du ganz genau weißt, alter Freund! Unzählige Male wurde ich geboren! Unzählige Male bin ich gestorben! Jede Qual, jede Freude, die jemals empfunden wurde, war meine. Mit einem Bein stehe ich in der Zeitsphäre, der Sphäre, die du für mich geschaffen hast, alter Freund, und ich reise kreuz und quer durch diese Welt, um ihre Geschichte aufzuzeichnen. Ich habe die bösesten Dinge getan. Ich habe die ehrenwertesten Opfer gebracht. Ich bin Mensch, Elf und Oger. Ich bin Mann und Frau. Ich habe Kinder zur Welt gebracht. Ich habe Kinder getötet. Ich habe dich gesehen, so wie du warst. Ich sehe dich, wie du bist. Wenn ich kalt und gefühllos wirke, dann darum, weil ich überleben will, ohne den Verstand zu verlieren! Meine Leidenschaft fließt in meine Worte. Jene, die meine Bücher lesen, wissen, was es heißt, in jeder Zeit gelebt zu haben, in jedem Körper, der je diese Welt betreten hat!«

Raistlins Hand löste sich vom Gewand des Chronisten. Seine Kraft schwand schnell. Aber der Magier hängte sich an die Worte von Astinus, obwohl er schon die Kälte des Todes um sein Herz spürte. Ich muß leben, nur noch einen Augenblick. Lunitari, gib mir nur noch einen Augenblick, betete er, den Geist des Mondes anrufend, aus dem die Roten Magier ihre Magie zogen. Ein Wort würde kommen, das wußte er. Ein Wort, das ihn retten würde. Wenn er nur durchhalten könnte! Astinus’ Augen flackerten, als er auf den sterbenden Mann blickte. Die Worte, die er ihm entgegengeschleudert hatte, hatten sich während unzähliger Jahrhunderte in ihm angestaut.

»Am letzten vollendeten Tag«, fuhr Astinus mit bebender Stimme fort, »werden die drei Götter zusammenkommen: Paladin in seinem Glanz, Königin Takisis in ihrer Dunkelheit und schließlich Gilean, Herr des Ausgleichs. In seinen Händen wird jeder den Schlüssel der Erkenntnis tragen. Sie werden diese Schlüssel auf den großen Altar legen, und auf dem Altar werden auch meine Bücher liegen – die Geschichte eines jeden Lebewesens, das auf Krynn gelebt hat! Und dann schließlich wird die Welt vollendet sein…«

Astinus hielt entsetzt inne, als ihm bewußt wurde, was er gesagt hatte, was er getan hatte.

Aber Raistlins Augen sahen ihn nicht mehr. Die Stundenglaspupillen waren aufgerissen, die sie umgebende goldene Farbe strahlte wie eine Flamme.

»Der Schlüssel…«, flüsterte Raistlin jubelnd. »Der Schlüssel! Ich weiß… ich weiß!«

Obwohl er so schwach war, daß er sich kaum bewegen konnte, griff Raistlin in den kleinen unscheinbaren Beutel, der an seinem Gürtel hing, und nahm die murmelgroße Kugel der Drachen in seine zitternde Hand.

»Ich weiß, wer du bist«, murmelte Raistlin mit letzter Kraft.

»Ich kenne dich jetzt, und ich flehe dich an – komm mir zur Hilfe, so wie du mir im Turm und in Silvanesti zur Hilfe gekommen bist! Unser Handel gilt! Rette mich, und du rettest dich selbst!«

Der Magier brach zusammen. Sein Kopf mit den spärlichen weißen Haaren fiel schlaff auf den Boden, seine verfluchten Augen schlossen sich. Die Hand, die die Kugel hielt, wurde schlaff, aber seine Finger entspannten sich nicht. Sie hielten die Kugel in einem stärkeren Griff als der Tod.

Nicht mehr als ein Bündel von Knochen, in eine blutrote Robe gehüllt, lag Raistlin bewegungslos inmitten der Papiere. Astinus starrte lange Zeit auf den Körper, der von den zwei Monden in ein abstoßendes purpurrotes Licht getaucht war. Dann senkte er den Kopf und verließ die totenstille Bibliothek und verschloß hinter sich die Tür mit zitternden Händen. Der Chronist ging in sein Arbeitszimmer zurück, wo er stundenlang dasaß und in die Dunkelheit starrte.

6

Palanthas

»Ich sage dir, es war Raistlin!«

»Und ich sage dir, daß ich dir den Hupak um deinen Hals drehe, wenn du mir noch mehr Geschichten über Pelzelefanten, Ringe zur Fernsteuerung und sich von Luft ernährenden Pflanzen erzählst!« schnappte Flint wütend.

»Aber es war Raistlin«, gab Tolpan zurück, doch so leise, daß Flint es nicht hören konnte, während sie durch die Prachtstraßen der wunderschönen Stadt Palanthas spazierten. Der Kender wußte aufgrund seiner langen Freundschaft, wie weit er den Zwerg drängen konnte.

»Und belästige auch Laurana nicht mit deinen verrückten Geschichten«, befahl Flint, da er Tolpans Absicht richtig einschätzte. »Sie hat genug Probleme…«

»Aber…«

Der Zwerg blieb stehen und starrte den Kender unter seinen buschigen weißen Augenbrauen grimmig an.

»Versprichst du es mir?«

Tolpan seufzte: »Oh, in Ordnung.«

Es wäre ja nicht schlimm gewesen, wenn er sich nicht so sicher gewesen wäre, daß er Raistlin gesehen hatte! Er und Flint waren an den Stufen der großen Bibliothek von Palanthas vorbeigegangen, als die scharfen Augen des Kenders eine Gruppe von Mönchen erblickten, die sich um eine auf den Stufen liegende Person versammelt hatte. Als Flint einen Moment anhielt, um ein besonders schönes, von Zwergen erbautes Steinwerk in einem gegenüberliegenden Gebäude zu bewundern, nahm Tolpan die Gelegenheit beim Schopf, um zu den Stufen zu schleichen.

Zu seinem Erstaunen sah er einen Mann, der genauso wie Raistlin aussah – goldfarbene, metallische Haut, rote Robe – und der von den Stufen gehoben und in die Bibliothek getragen wurde. Aber als der aufgeregte Kender über die Straße lief, Flint packte und den murrenden Zwerg zurückzog, war die Gruppe verschwunden.

Tolpan rannte sogar zur Tür, klopfte und verlangte Eintritt. Aber der Ästhet, der in der Tür erschien, wirkte so entsetzt über den Gedanken, einen Kender in die große Bibliothek zu lassen, daß der entrüstete Zwerg Tolpan wegzog, bevor der Mönch seinen Mund öffnen konnte.

Versprechen waren für Kender eine verschwommene Angelegenheit. Tolpan überlegte, Laurana auf alle Fälle davon zu berichten, aber bei dem Gedanken an das Gesicht des Elfenmädchens, wie es seit kurzem war, bleich und abgespannt von Trauer, Sorge und wenig Schlaf, dachte der Kender, daß Flint vielleicht recht hatte. Wenn es Raistlin gewesen war, hatte er wahrscheinlich persönliche geheime Geschäfte zu erledigen und wäre über ihr Hereinschneien bestimmt nicht erfreut. Trotzdem…

Der Kender seufzte und ging weiter und stieß Steinchen vor sich her und sah sich wieder in der Stadt um. Palanthas war wirklich einen Besuch wert. Die Stadt hatte schon während des Zeitalters der Allmacht wegen ihrer Schönheit und Anmut einen legendären Ruf genossen. Auf Krynn gab es keine andere Stadt, die man mit ihr vergleichen konnte – zumindest nach menschlichem Maßstab. Nach einem kreisförmigen Muster wie ein Rad aufgebaut, bildete der Stadtkern im wahrsten Sinne des Wortes die Radnabe. Alle wichtigen amtlichen Gebäude waren hier angesiedelt, und die ausladenden, schwungvollen Treppen und anmutigen Säulen waren in ihrer Großartigkeit atemberaubend. Von diesem zentralen Kreis führten breite Prachtstraßen in die acht Haupthimmelsrichtungen. Gepflastert mit genau übereinstimmenden Steinen (natürlich Zwergenarbeit) und von Bäumen gesäumt, deren Blätter das ganze Jahr über wie Goldborten leuchteten, führten diese Prachtstraßen zum Hafen im Norden und zu den sieben Toren der Alten Stadtmauer.