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Caramon läuft zu seinem Bruder und hebt den zerbrechlichen Körper mit seinen starken Armen hoch. Er ignoriert Raistlins verzweifelte Bitten, ihn allein zu lassen, und macht sich daran, seinen Zwillingsbruder aus dem bösen Turm zu tragen. Er wird Raistlin von diesem Ort fortbringen, komme, was wolle. Aber gerade als sie die Tür erreichen, sehen sie eine Geisterscheinung. Eine weitere Prüfung, denkt Caramon grimmig. Nun, dieser Prüfung wird Raistlin sich nicht unterziehen müssen. Sanft legt er seinen Bruder auf den Boden und wendet sich dieser Herausforderung zu.

Was dann geschieht, macht keinen Sinn. Der beobachtende Caramon blinzelt erstaunt. Er sieht sich einen Zauberspruch werfen! Er hat sein Schwert fallen lassen und hält seltsame Gegenstände in den Händen und beginnt Worte zu sprechen, die er nicht versteht! Blitze schießen aus seinen Händen! Die Geisterscheinung verschwindet mit einem Aufschrei.

Der richtige Caramon wirft Par-Salian einen verstörten Blick zu, aber der Magier schüttelt nur den Kopf und zeigt wortlos zu dem Bild, das vor Caramons Augen flackert. Ängstlich und verwirrt wendet sich Caramon wieder der Vision zu.

Raistlin erhebt sich langsam.

»Wie hast du das geschafft?« fragt Raistlin Caramon, der an der Mauer lehnt.

Caramon weiß es nicht. Wie konnte er etwas tun, wozu sein Bruder jahrelange Studien brauchte! Aber der Krieger sieht sich selbst eine schlagfertige Erklärung abgeben. Caramon sieht auch den schmerzlichen und gequälten Blick im Gesicht seines Bruders.

»Nein, Raistlin!« schreit der echte Caramon. »Es ist ein Trick! Ein Trick von diesem alten Mann! Ich kann so etwas nicht! Ich habe dir niemals deine Magie gestohlen! Niemals!«

Aber der Caramon in der Vision – großspurig und draufgängerisch – macht sich daran, seinen »kleinen« Bruder zu »befreien«.

Raistlin hebt seine Hände und hält sie seinem Bruder entgegen. Aber nicht, um ihn zu umarmen. Nein. Der junge Magier, krank und verletzt und verzehrt vor Eifersucht, beginnt die Worte eines Zaubers zu sprechen – den letzten Zauber, zu dem er noch Kraft hat.

Flammen blitzen aus Raistlins Händen. Das magische Feuer bauscht sich vor und verschlingt seinen Bruder…

Caramon sieht, vor Entsetzen wie gelähmt, zu, wie er in der Vision von dem Feuer verzehrt wird… Er sieht zu, wie sein Bruder auf dem kalten Steinboden zusammenbricht.

»Nein! Raist…«

Kühle, sanfte Hände berührten sein Gesicht. Er konnte Stimmen hören, aber ihre Worte waren bedeutungslos. Er konnte verstehen, wenn er wollte. Aber er wollte sie nicht verstehen. Seine Augen waren geschlossen. Er konnte sie öffnen, aber er weigerte sich. Die Augen zu öffnen, die Worte zu verstehen – das würde seinen Schmerz nur real werden lassen.

»Ich muß mich ausruhen«, hörte Caramon sich sagen, dann sank er in die Dunkelheit zurück.

Wieder nähert er sich einem Turm, aber diesmal ist es ein anderer. Es ist der Sonnenturm in Silvanesti. Wieder ist Raistlin bei ihm, aber nun trägt sein Bruder die Schwarze Robe. Und jetzt ist es Raistlin, der Caramon hilft. Der große Krieger ist verletzt. Blut strömt ununterbrochen aus einer Speerwunde, die ihn fast seinen Arm gekostet hätte.

»Ich muß mich ausruhen«, sagt Caramon.

Sanft legt Raistlin ihn auf den Boden, macht es ihm bequem, lehnt ihn mit dem Rücken gegen den kalten Stein des Turms. Und dann macht Raistlin sich auf, ihn zu verlassen.

»Raist! Nein…«, schreit Caramon. »Du kannst mich hier nicht liegen lassen!«

Der verletzte, hilflose Krieger sieht Horden von untoten Elfen, von denen sie in Silvanesti angegriffen worden waren und die nur darauf warten, auf ihn loszustürmen. Nur eins hält sie noch zurück – die magische Macht seines Bruders.

»Raist! Laß mich nicht allein!« schreit er.

»Wie ist es, wenn man schwach und einsam ist?« fragt Raistlin ihn sanft.

»Raist! Mein Bruder…«

»Ich habe ihn schon einmal getötet, Tanis, ich kann es wieder tun!«

»Raist! Nein! Raist!«

»Caramon, bitte…« Eine andere Stimme, sanft. Sanfte Hände berührten ihn. »Caramon, bitte! Wach auf! Komm zurück, Caramon. Komm zu mir zurück. Ich brauche dich.«

Nein! Caramon schob diese Stimme weg. Er schob die sanften Hände weg. Nein, ich will nicht zurückkommen. Ich will nicht. Ich bin müde. Ich bin verletzt. Ich will mich ausruhen. Aber die Hände, die Stimme ließen ihn nicht ausruhen.

Und jetzt fällt er, fällt in eine entsetzlich rote Finsternis. Skelettfinger umklammern ihn, augenlose Köpfe wirbeln an ihm vorbei, ihre Münder zu stummen Schreien geöffnet. Er holt Luft, dann versinkt er in Blut. Nach Atem ringend, findet er schließlich fast erstickt den Weg zur Oberfläche zurück und schnappt nach Luft. Raistlin! Aber nein, er ist verschwunden. Seine Freunde. Tanis. Auch verschwunden. Er sieht, wie er weggespült wird. Das Schiff. Verschwunden. Zerborsten. Matrosen verwundet, ihr Blut vermischt mit dem blutroten Meer. Tika! Sie ist in seiner Nähe. Er zieht sie zu sich. Sie schnappt nach Luft. Aber er kann sie nicht festhalten. Das wirbelnde Wasser reißt sie aus seinen Armen und zieht ihn nach unten. Dieses Mal findet er die Oberfläche nicht mehr. Seine Lungen brennen, platzen. Tod… Ruhe… süße, warme…

Aber immer diese Hände! Sie ziehen ihn zurück zu der grauenhaften Oberfläche. Lassen ihn die brennende Luft einatmen. Nein, laß mich los!

Und dann andere Hände, die sich aus dem blutroten Wasser strecken. Feste Hände, sie ziehen ihn nach unten. Er fällt nach unten… unten… in die barmherzige Dunkelheit. Geflüsterte Worte der Magie besänftigen ihn, er atmet… atmet Wasser… und seine Augen sind geschlossen… das Wasser ist warm und tröstlich… Er ist wieder ein Kind.

Aber nicht ganz. Sein Zwillingsbruder fehlt.

Nein! Erwachen ist qualvoll. Laß mich für immer in diesem dunklen Traum schweben. Besser als der stechende, bittere Schmerz.

Aber die Hände ziehen ihn. Die Stimme ruft ihn.

»Caramon, ich brauche dich…«

Tika.

»Ich bin zwar kein Kleriker, aber ich glaube, es geht ihm gut. Laß ihn ruhig schlafen.«

Tika wischte schnell ihre Tränen weg, versuchte, stark und beherrscht zu erscheinen.

»Was… was war denn mit ihm?« Sie versuchte, ruhig zu fragen, konnte aber ein Schaudern nicht unterdrücken. »War er verwundet, als das Schiff… in den Strudel geriet? Seit Tagen ist er in diesem Zustand! Seitdem du uns gefunden hast.«

»Nein, ich glaube nicht. Wenn er verwundet gewesen wäre, hätten die Meer-Elfen ihn geheilt. Das war etwas anderes. Wer ist dieser Raist, von dem er immer spricht?«

»Sein Zwillingsbruder«, antwortete Tika zögernd.

»Was ist geschehen? Ist er gestorben?«

»Nein… nein. Ich bin mir nicht sicher, was geschehen ist. Caramon hat seinen Bruder sehr geliebt, und er… Raistlin hat ihn verraten.«

»Ich verstehe.« Der Mann nickte ernst. »So etwas geschieht dort oben. Und du fragst mich, warum ich hier unten lebe.«

»Du hast sein Leben gerettet!« sagte Tika. »Und ich kenne dich nicht… deinen Namen.«

»Zebuiah«, antwortete der Mann lächelnd. »Und ich habe nicht sein Leben gerettet. Er ist aus Liebe zu dir zurückgekehrt.«

Tika senkte ihren Kopf, ihre roten Locken verbargen ihr Gesicht. »Ich hoffe es«, flüsterte sie. »Ich liebe ihn so sehr. Ich würde für ihn sterben, wenn es ihn retten könnte.«

Da sie jetzt sicher war, daß mit Caramon alles in Ordnung war, richtete Tika ihre Aufmerksamkeit auf diesen seltsamen Mann. Er war mittleren Alters, glatt rasiert; seine Augen waren so weitherzig und offen wie sein Lächeln. Er war ein Mensch und in die rote Robe gekleidet. Beutel hingen an seinem Gürtel.

»Du bist ein Magier«, sagte Tika plötzlich. »Wie Raistlin!«

»Ah, das erklärt alles.« Zebuiah lächelte. »Als er mich in seinem Dämmerzustand gesehen hat, muß er sich an seinen Bruder erinnert haben.«

»Aber was machst du hier?« Tika sah sich zum ersten Mal in der seltsamen Umgebung um.