Caramon schloß seine Augen und begann zu weinen, ganz leise, um Tika nicht zu wecken.
16
Berem. Unerwartete Hilfe.
»Und das ist unsere Geschichte«, schloß Tanis.
Apoletta hatte ihm aufmerksam zugehört, ihre grünen Augen waren gespannt auf ihn gerichtet gewesen. Sie hatte ihn nicht unterbrochen. Als er geendet hatte, schwieg sie weiter. Sie wirkte gedankenverloren. Tanis störte sie nicht. Das Gefühl des Friedens und der Ruhe beruhigte und tröstete ihn. Der Gedanke an die Rückkehr in die rauhe, grelle Welt des Sonnenlichtes und des Lärms machte ihm plötzlich angst. Wie leicht wäre es, alles zu verdrängen und hierzubleiben, am Meeresgrund, für immer in dieser leisen Welt verborgen.
»Was ist mit ihm?« fragte sie schließlich und nickte zu Berem.
Tanis kam mit einem Seufzen wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schulterzuckend und blickte kurz zu Berem. Der Mann starrte in die dunkle Höhle. Seine Lippen bewegten sich, als ob er immer wieder einen Gesang wiederholen würde.
»Für die Königin der Finsternis ist er der Schlüssel. Wenn sie ihn findet, ist ihr der Sieg gewiß.«
»Nun«, sagte Apoletta abrupt, »ihr habt ihn. Ist damit euer Sieg gewiß?«
Tanis blinzelte. Diese Frage überraschte ihn. Er kratzte sich am Bart und grübelte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.
»Es stimmt… wir haben ihn«, murmelte er, »aber was sollen wir mit ihm machen? Was hat er an sich, das den Sieg garantiert – egal, für welche Seite?«
»Weiß er es nicht?«
»Er behauptet, es nicht zu wissen.«
Apoletta musterte Berem stirnrunzelnd. »Ich würde sagen, er lügt«, sagte sie nach einem Moment. »Aber andererseits ist er ein Mensch, und ich weiß wenig über die seltsamen Denkweisen der Menschen. Aber es gibt einen Weg, wie du es herausfinden kannst. Gehe nach Neraka zum Tempel der Dunklen Königin.«
»Neraka!« wiederholte Tanis erstaunt. »Aber das ist…« Er wurde von einem Aufschrei unterbrochen, der so voller Angst und Entsetzen war, daß er beinahe ins Wasser gestürzt wäre. Seine Hand fuhr zu seiner leeren Schwertscheide. Mit einem Fluch wirbelte er herum, nicht weniger als eine Horde Drachen erwartend.
Aber es war nur Berem, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
»Was ist los, Berem?« fragte Tanis nervös. »Was war denn?«
»Er hat nichts gesehen, Halb-Elf«, sagte Apoletta, »er hat auf den Namen Neraka so reagiert…«
»Neraka!« wiederholte Berem, heftig seinen Kopf schüttelnd.
»Unheil! Großes Unheil! Nein… nein…«
»Aber du kommst doch daher«, sagte Tanis und trat näher. Berem schüttelte hartnäckig den Kopf.
»Aber du hast mir gesagt…«
»Ein Fehler!« murmelte Berem. »Ich meinte nicht Neraka. Ich meinte… Takar… Takar…! Das hatte ich gemeint…«
»Du hast Neraka gemeint. Du weißt, daß dort in Neraka die Dunkle Königin ihren großen Tempel stehen hat!« sagte Apoletta streng.
»Hat sie das?« Berem sah die Elfe direkt an, seine blauen Augen waren groß und unschuldig. »Die Dunkle Königin, einen Tempel in Neraka? Nein, da gibt es nur ein kleines Dorf. Mein Dorf…« Plötzlich griff er an seinen Magen und krümmte sich, als hätte er Schmerzen. »Ich fühl’ mich nicht gut. Laßt mich in Ruhe…«, greinte er wie ein Kind und ließ sich auf den Marmorboden neben dem Wasser fallen. Er setzte sich und umklammerte seinen Magen und starrte in die Dunkelheit.
»Berem!« rief Tanis wütend.
»Fühl’ mich nicht gut…«, murmelte Berem widerspenstig.
»Was hast du gesagt, wie alt er ist?« fragte Apoletta.
»Über dreihundert Jahre, das behauptet er jedenfalls«, sagte Tanis verärgert. »Wenn du nur die Hälfte von dem, was er erzählt, glaubst, bleiben immer noch hundertfünfzig Jahre übrig, was genauso unlogisch ist, jedenfalls aus menschlicher Perspektive.«
»Weißt du«, erwiderte Apoletta nachdenklich, »der Tempel der Königin in Neraka ist ein Rätsel für uns. Nach der Umwälzung tauchte er plötzlich auf, soweit wir es feststellen konnten. Jetzt finden wir diesen Mann, dessen eigene Geschichte sich zu jener Zeit und jenem Ort zurückführen läßt.«
»Es ist seltsam…«, sagte Tanis mit einem Blick auf Berem.
»Ja. Es braucht nicht mehr als ein Zufall zu sein, aber wenn du Zufällen weit genug folgst, wirst du herausfinden, daß sie in schicksalhaften Mustern verknüpft sind, wie mein Gatte sagt.«
Apoletta lächelte.
»Zufall oder nicht, ich werde wohl nicht in den Tempel der Königin der Finsternis hineinspazieren und sie fragen, warum sie die ganze Welt nach einem Mann abgrast, der einen grünen Juwel in seiner Brust trägt«, sagte Tanis sarkastisch.
»Vermutlich nicht«, gab Apoletta zu. »Es ist trotzdem schwer zu glauben, wie du erzählst, daß sie so mächtig geworden ist. Und was ist mit den guten Drachen?«
»Gute Drachen?« wiederholte Tanis verblüfft. »Was für gute Drachen?«
Jetzt war Apoletta erstaunt. »Nun, die guten Drachen. Die silbernen und die goldenen Drachen. Bronzene Drachen. Und die Drachenlanzen. Sicherlich haben die Silberdrachen euch die Lanzen gegeben, die sie in Verwahrung hatten…«
»Ich habe nie von Silberdrachen gehört«, entgegnete Tanis, »außer in einem alten Lied über Huma. Das gleiche ist mit den Drachenlanzen. Wir haben sie schon so lange ohne Erfolg gesucht, daß ich angefangen habe zu glauben, daß sie nur in Kindergeschichten existieren.«
»Das gefällt mir nicht.« Apoletta stützte ihr Kinn in die Hände, ihr Gesicht war angespannt und blaß. »Irgend etwas stimmt da nicht. Wo sind die guten Drachen? Warum kämpfen sie nicht? Anfangs habe ich die Gerüchte über die Rückkehr der Meer-Drachen nicht geglaubt, weil ich wußte, daß die guten Drachen das niemals zugelassen hätten. Aber wenn die guten Drachen verschwunden sind, wie ich nach unserer Unterhaltung glauben muß, Halb-Elf, dann befürchte ich, daß sich mein Volk wirklich in Gefahr befindet.« Sie hob lauschend ihren Kopf.
»Ach ja, mein Gatte kommt mit deinen Freunden zurück.« Sie stieß sich vom Rand ab. »Er und ich werden zu meinem Volk zurückgehen und diskutieren, was wir unternehmen müssen…«
»Warte!« rief Tanis. »Du mußt uns noch den Weg nach oben zeigen! Wir können hier nicht bleiben!«
»Aber ich kenne den Weg nicht«, sagte Apoletta. »Auch Zebuiah nicht. Das war niemals unser Anliegen.«
»Wir könnten wochenlang durch diese Ruinen laufen!« schrie Tanis. »Oder vielleicht für alle Ewigkeiten! Du bist dir nicht sicher, daß Leute aus diesem Ort entkommen können, oder? Vielleicht sterben sie einfach!«
»Wie ich schon sagte«, erwiderte Apoletta kühl, »das war niemals unser Anliegen.«
»Nun, dann macht es zu eurem Anliegen!« brüllte Tanis. Seine Stimme hallte unheimlich über das Wasser. Berem sah zu ihm und schrak beunruhigt zusammen. Apolettas Augen verengten sich vor Zorn. Tanis holte tief Luft, dann biß er sich auf die Lippe, er schämte sich plötzlich.
»Es tut mir leid…«, begann er, aber da kam Goldmond auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Tanis? Was ist los?« fragte sie.
»Nichts, was man dagegen tun könnte.« Seufzend sah er an ihr vorbei. »Habt ihr Caramon und Tika gefunden? Geht es ihnen gut?«
»Ja, wir haben sie gefunden«, antwortete Goldmond, ihr Blick folgte Tanis’. Zusammen beobachteten sie die beiden, die langsam hinter Flußwind und Zebuiah die Stufen herunterkamen. Tika sah sich erstaunt um. Caramon hielt seine Augen starr geradeaus gerichtet. Als Tanis das Gesicht des Mannes sah, wandte er sich an Goldmond.
»Du hast meine zweite Frage nicht beantwortet«, sagte er.
»Tika geht es gut«, antwortete Goldmond. »Caramon…« Sie schüttelte den Kopf.
Tanis sah wieder zu Caramon und konnte einen bestürzten Ausruf gerade noch unterdrücken. Er hätte diesen Mann mit dem grimmigen, tränenverschmierten Gesicht und den gehetzten dunklen Augen nicht als den lustigen, immer gutgelaunten Krieger wiedererkannt.