Nicht nur eine schöne Dame lag am Strand, sondern zwei. Neben ihnen lagen vier Männer. Alle waren elegant gekleidet. Holzstücke lagen verstreut herum, offensichtlich die Reste eines jener Vergnügungsboote.
»Ertrunken«, sagte der kleine Junge und beugte sich nieder, um eine der schönen Damen zu streicheln.
»Nein, sind sie nicht!« knurrte der Fischer, der den Puls am Hals der Frau untersuchte. Einer der Männer begann sich bereits zu bewegen – ein älterer Mann, ungefähr fünfzig Jahre alt, setzte sich auf und blickte sich verwirrt um. Als er den Fischer bemerkte, zuckte er angstvoll zusammen, kroch auf Händen und Knien zu einem seiner bewußtlosen Gefährten und schüttelte ihn.
»Tanis, Tanis!« schrie der Mann dem bärtigen Mann zu, der sich plötzlich aufsetzte.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Fischer, der die Beunruhigung des bärtigen Mannes sah. »Wir wollen nur helfen, wenn wir können. David, lauf zurück und hol Mama. Sie soll Decken und die Flasche Brandy, die ich noch vom Weihnachtsfest habe, mitbringen. Hier, Herrin«, sagte er sanft und half einer der Frauen, sich hinzusetzen. »Nimm es leicht. Es ist alles in Ordnung. Seltsame Sache…«, murmelte der Fischer zu sich, als er die Frau in seinen Armen hielt und ihr tröstend auf die Schulter klopfte. »Ihr wäret fast ertrunken, aber keiner von euch scheint Wasser geschluckt…«
In Decken gehüllt, wurden die Schiffbrüchigen zu dem kleinen Haus des Fischers in der Nähe des Strandes geführt. Hier verabreichte man ihnen Brandy und jedes andere Mittel, das die Frau des Fischers bei fast Ertrunkenen für notwendig erachtete. Klein-Roger betrachtete sie alle mit Stolz. Er wußte, daß sein »Fang« eine Woche lang Dorfgespräch sein würde.
»Vielen Dank nochmals für eure Hilfe«, sagte Tanis.
»Ich bin froh, daß ich da war«, sagte der Mann mürrisch.
»Aber paßt auf. Wenn ihr wieder mit einem kleinen Boot hinausfahrt, kehrt sofort beim ersten Anzeichen eines Sturms um.«
»Äh, ja, ich… wir werden daran denken«, sagte Tanis verwirrt. »Nun, wenn du uns sagen könntest, wo wir sind…«
»Nördlich von der Stadt«, sagte der Fischer. »Ungefähr zwei, drei Meilen. David kann euch im Pferdewagen mitnehmen.«
»Das ist sehr nett von euch«, sagte Tanis, zögerte und sah zu den anderen. Caramon zuckte die Schultern. »Äh, ich weiß, es klingt komisch, aber wir… wir waren vom Kurs abgekommen. Welche Stadt ist nördlich?«
»Nun, Kalaman«, sagte der Fischer, der sie nun argwöhnisch musterte.
»Oh!« sagte Tanis. Er lachte schwach und wandte sich zu Caramon. »Was habe ich dir gesagt! Wir… äh… sind nicht so weit vom Kurs abgekommen, wie du gedacht hast.«
»Sind wir nicht?« fragte Caramon mit aufgerissenen Augen.
»O ja, sind wir nicht«, fügte er hastig hinzu, als Tika ihren Ellbogen in seine Rippen drückte. »Ja, ja, ich habe mich wohl geirrt, wie immer. Du kennst mich, Tanis, ich finde mich nie zurecht…«
»Jetzt übertreib nicht!« murmelte Flußwind, und Caramon verstummte.
Der Fischer musterte sie mit einem finsteren Blick. »Ihr seid komische Vögel, kein Zweifel«, sagte er. »Erst könnt ihr euch nicht erinnern, wie ihr hier gestrandet seid. Jetzt wißt ihr nicht einmal, wo ihr seid. Ich schätze, ihr wart alle stockbetrunken, aber das soll nicht meine Sache sein. Wenn ihr meinen Rat hören wollt, sollte keiner von euch jemals wieder einen Fuß in ein Boot setzen, betrunken oder nüchtern. David, hol den Wagen.«
Der Fischer warf ihnen einen letzten verärgerten Blick zu, hob seinen kleinen Sohn auf seine Schultern und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Sein älterer Sohn verschwand, vermutlich, um den Wagen zu holen.
Tanis seufzte und sah seine Freunde an.
»Weiß jemand von euch, wie wir hierher gekommen sind?« fragte er. »Oder warum wir so gekleidet sind?«
Alle schüttelten den Kopf.
»Ich erinnere mich an das Blutmeer und den Mahlstrom«, sagte Goldmond. »Aber alles andere kommt mir wie ein Traum vor.«
»Ich erinnere mich an Raist…«, sagte Caramon leise, sein Gesicht war ernst. Als er Tikas Hand spürte, sah er zu ihr. Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. »Und ich erinnere mich…«
»Pst«, sagte Tika und errötete. Caramon küßte ihre roten Locken. »Es war kein Traum«, murmelte sie.
»Ich erinnere mich auch an einiges«, sagte Tanis grimmig, mit einem Blick zu Berem. »Aber es ist zusammenhanglos, zerstückelt. Ich kann die Teile nicht zusammenfügen. Nun, es hat keinen Sinn zurückzublicken. Wir müssen nach vorn sehen. In Kalaman werden wir herausfinden, was passiert ist. Ich weiß nicht einmal, welchen Tag wir heute haben! Oder welchen Monat. Dann…«
»Palanthas«, sagte Caramon. »Wir gehen nach Palanthas.«
»Mal sehen«, antwortete Tanis seufzend. David kam mit dem Wagen zurück, der von einer dürren Mähre gezogen wurde. Der Halb-Elf sah Caramon an. »Bist du dir wirklich sicher, daß du deinen Bruder finden möchtest?« fragte er leise.
Caramon antwortete nicht.
Die Gefährten erreichten gegen Mittag Kalaman.
»Was ist los?« fragte Tanis David, während der junge Mann den Wagen durch die Straßen der Stadt fuhr. »Ist hier ein Fest?«
Die Straßen waren mit Menschen überfüllt. Die meisten Geschäfte waren geschlossen. Alle standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich aufgeregt.
»Es sieht mehr wie eine Beerdigung aus«, sagte Caramon.
»Irgendeine hochstehende Persönlichkeit muß gestorben sein.«
»Das… oder Krieg«, murmelte Tanis. Frauen weinten, Männer blickten traurig oder wütend, Kinder standen herum und starrten ängstlich ihre Eltern an.
»Krieg kann es nicht sein, Herr«, sagte David, »und das Frühlingsfest war erst vor zwei Tagen. Weiß nicht, was los ist. Nur eine Minute. Ich kann es herausfinden.« Er brachte das Pferd zum Halten.
»Geh nur«, sagte Tanis. »Aber nur eine Minute. Warum kann es kein Krieg sein?«
»Nun, wir haben den Krieg gewonnen!« David starrte Tanis erstaunt an. »Bei den Göttern, Herr, mußt du aber betrunken gewesen sein, daß du das vergessen hast. Der Goldene General und die guten Drachen…«
»Ach ja«, unterbrach Tanis eilig.
»Ich halte hier am Fischmarkt an«, sagte David und sprang vom Wagen. »Sie werden es wissen.«
»Wir kommen mit dir.« Tanis machte den anderen Zeichen.
»Was gibt’s Neues?« rief David, während er auf eine Gruppe von Männern und Frauen zulief, die vor einem Geschäft standen.
Einige Männer drehten sich sofort um und sprachen alle auf einmal. Tanis, der hinter dem Jungen ging, fing nur Bruchstücke der aufgeregten Unterhaltung auf. »Goldener General gefangengenommen!… Stadt dem Untergang geweiht… Leute fliehen… böse Drachen…«
Die Gefährten verstanden absolut nichts. Die Leute schienen nur widerstrebend in Anwesenheit von Fremden reden zu wollen – warfen ihnen düstere, mißtrauische Blicke zu, besonders in Anbetracht ihrer eleganten Kleidung.
Die Gefährten dankten David noch einmal für die Mitnahme in die Stadt, dann ließen sie ihn bei seinen Freunden zurück. Nach einer kurzen Diskussion entschieden sie, zum Marktplatz zu gehen, in der Hoffnung, mehr Einzelheiten über die Ereignisse zu erfahren. Die Menge wurde immer dichter, je weiter sie gingen, bis sie sich schließlich ihren Weg durch die vollen Straßen bahnen mußten. Die Leute rannten hin und her, fragten nach den neuesten Nachrichten, schüttelten verzweifelt die Köpfe. Gelegentlich sahen sie Stadtbewohner mit schnell zusammengepackten Bündeln auf die Stadttore zusteuern.
»Wir sollten uns Waffen kaufen«, schlug Caramon grimmig vor. »Die Neuigkeiten klingen nicht gut. Wer ist wohl dieser Goldene General? Die Leute scheinen eine Menge von ihm zu halten, wenn sein Verschwinden sie in solch eine Unruhe versetzt.«
»Wahrscheinlich ein Ritter von Solamnia«, antwortete Tanis.
»Und du hast recht, wir sollten uns Waffen kaufen.« Er faßte in seinen Gürtel. »Verdammt! Ich hatte eine Börse mit lustigen alten Münzen, aber sie ist verschwunden! Als ob wir nicht schon genug Ärger hätten…«