Am Horizont tauchte etwas Unglaubliches auf. Der Anblick war so schrecklich, daß anfangs jeder glaubte, der Wahnsinn wäre über ihn gekommen. Aber das Etwas trieb immer näher, und alle waren gezwungen, seine Existenz zuzugeben, was ihr Entsetzen nicht minderte.
Denn die Bewohner von Krynn hatten zum erstenmal Lord Ariakus’ genialste Kriegsmaschine gesehen – die Fliegende Zitadelle.
In den Tiefen der Tempel von Sanction wirkend, hatten die schwarzgewandeten Magier und dunklen Kleriker eine Burg aus ihren Fundamenten gerissen und in die Luft gesetzt. Jetzt, auf dunklen, grauen Sturmwolken schwebend, beleuchtet von gezackten Widerhaken weißer Blitze, umgeben von hundert Scharen roter und schwarzer Drachen, ragte die Zitadelle über Kalaman, löschte die Sonne aus und warf ihre schrecklichen Schatten auf die Stadt.
Die Leute flohen entsetzt von den Mauern. Drachenangst breitete sich aus, löste Panik und Verzweiflung aus bei allen, die in Kalaman lebten. Aber die Drachen an der Zitadelle griffen nicht an. Drei Wochen hatte ihre Dunkle Königin befohlen. Sie würden diesen erbärmlichen Menschen drei Wochen geben. Und sie würden aufpassen, daß in diesen drei Wochen die Ritter und die guten Drachen nicht zuerst angriffen.
Tanis wandte sich den Gefährten zu, die auf der Mauer zusammenstanden und düster zur Zitadelle starrten. An die Wirkungen der Drachenangst gewöhnt, waren sie in der Lage gewesen, ihr zu widerstehen, und nicht wie die Bewohner Kalamans in Panik geflohen. Nun standen sie allein auf der Mauer.
»Drei Wochen«, sagte Tanis laut, und seine Freunde wandten sich ihm zu.
Zum ersten Mal, seit sie Treibgut verlassen hatten, sahen sie sein Gesicht vom Wahnsinn der Selbstbeschuldigung befreit. In seinen Augen lag Friede, so wie Flint ihn in Sturms toten Augen gesehen hatte.
»Drei Wochen«, wiederholte Tanis mit ruhiger Stimme, die Flint schaudern ließ. »Uns bleiben drei Wochen. Das sollte ausreichen. Ich werde nach Neraka zur Dunklen Königin gehen.« Seine Augen fuhren zu Berem, der schweigend neben ihm stand. »Und du kommst mit mir.«
Berems Augen waren vor blankem Entsetzen weit aufgerissen.
»Nein!« wimmerte er und wich zurück. Caramon, der sah, daß der Mann weglaufen wollte, streckte seine riesige Hand aus und packte ihn.
»Du gehst mit mir nach Neraka«, sagte Tanis mit weicher Stimme, »oder ich übergebe dich gleich Gilthanas. Der Elfenlord liebt seine Schwester über alles. Er würde nicht zögern, dich der Königin der Finsternis auszuliefern, wenn er meint, daß er Laurana dadurch freibekommt. Du und ich wissen es besser. Wir wissen, daß es wenig ändern würde, wenn man dich ausliefern würde. Aber er weiß es nicht. Er ist ein Elf, und er würde glauben, daß sie ihre Versprechen hält.«
Berem starrte Tanis argwöhnisch an. »Du lieferst mich nicht aus?«
»Ich will herausfinden, was los ist«, erklärte Tanis kühl, »auf jeden Fall brauche ich einen Führer, der das Land kennt…«
Berem riß sich aus Caramons Griff frei und sah ihn gehetzt an. »Ich komme mit«, wimmerte er. »Liefer mich nicht dem Elfen aus…«
»In Ordnung«, sagte Tanis kühl. »Hör auf zu greinen. Ich will heute Abend aufbrechen und habe noch eine Menge zu erledigen…«
Als er sich abrupt wegdrehte, war er nicht überrascht, eine starke Hand auf seinem Arm zu spüren. »Ich weiß, was du sagen willst, Caramon.« Tanis drehte sich nicht um. »Und die Antwort ist nein. Berem und ich gehen allein.«
»Dann geht ihr allein in den Tod«, sagte Caramon ruhig und hielt Tanis weiter fest.
»Nun, dann ist es das, was wir tun!« Tanis versuchte ohne Erfolg, sich von dem Krieger zu befreien. »Ich werde keinen von euch mitnehmen.«
»Und du wirst versagen«, sagte Caramon. »Ist es das, was du willst? Gehst du nur, um einen Weg zum Sterben zu finden, der deine Schuldgefühle beendet? Wenn das so ist, kann ich dir jetzt gleich mein Schwert anbieten. Aber wenn du wirklich Laurana befreien willst, dann brauchst du Hilfe.«
»Die Götter haben uns zusammengeführt«, sagte Goldmond leise. »Sie haben uns wieder zusammengeführt zu einer Zeit, in der größte Not herrscht. Es ist ein Zeichen der Götter, Tanis. Leugne es nicht.«
Der Halb-Elf senkte seinen Kopf. Er konnte nicht weinen, er hatte keine Tränen mehr. Tolpans kleine Hand schlüpfte in seine.
»Außerdem«, sagte der Kender fröhlich, »denk doch mal an den Ärger, den du haben wirst, wenn ich nicht bei dir bin!«
18
Eine einzige Kerze
Die Stadt Kalaman war in der Nacht, nachdem die Finstere Herrin ihr Ultimatum verkündet hatte, totenstill. Fürst Calof hatte den Kriegszustand über die Stadt verhängt, was bedeutete, daß alle Tavernen geschlossen und die Stadttore verriegelt waren, so daß niemand die Stadt verlassen konnte. Nur Familien aus den kleinen Bauern- und Fischerdörfern um Kalaman durften die Stadt betreten. Diese Flüchtlinge kamen vor Sonnenuntergang an, erzählten schreckliche Geschichten über Drakonier, die über ihr Land schwärmten, plünderten und alles niederbrannten.
Obwohl einige der Honoratioren von Kalaman gegen diese drastische Maßnahme waren, hatten Tanis und Gilthanas, zum ersten Mal gleicher Meinung, den Fürsten zu dieser Entscheidung gedrängt. Beide hatten in lebhaften und beängstigenden Bildern über den Niedergang der Stadt Tarsis berichtet, was sich als äußerst überzeugend erwies. Fürst Calof verkündete den Kriegszustand, aber dann starrte er beide Männer hilflos an. Offensichtlich hatte er keine Vorstellung, wie er die Stadt verteidigen sollte. Der entsetzliche Schatten der über ihnen schwebenden Zitadelle hatte den Fürsten völlig entnervt, und die meisten seiner militärischen Führer waren in keinem besseren Zustand. Nachdem Tanis einigen ihrer wahnsinnigen Ideen gelauscht hatte, erhob er sich.
»Ich habe einen Vorschlag, mein Fürst«, sagte er respektvoll.
»Hier befindet sich eine Person, die fähig ist, die Verteidigung der Stadt zu organisieren…«
»Du, Halb-Elf?« unterbrach ihn Gilthanas mit einem bitteren Lächeln.
»Nein«, antwortete Tanis freundlich. »Du, Gilthanas.«
»Ein Elf?« fragte Fürst Calof erstaunt.
»Er war in Tarsis. Er hat Erfahrungen im Kampf gegen Drakonier und Drachen. Die guten Drachen vertrauen ihm und seinem Urteil.«
»Das stimmt!« gab Calof zu. Große Erleichterung breitete sich über sein Gesicht aus, als er sich an Gilthanas wandte. »Wir wissen, wie die Elfen über Menschen denken, mein Lord, und ich muß zugeben, daß die meisten Menschen über Elfen auch nicht besser denken. Aber wir wären dir ewig dankbar, wenn du uns in dieser Zeit der Not helfen könntest.«
Gilthanas starrte Tanis verwirrt an. Aber er konnte in dem bärtigen Gesicht des Halb-Elfen nichts erkennen. Es wirkt beinahe wie das Gesicht eines toten Mannes, dachte er. Fürst Calof wiederholte seine ›Ansprache‹, fügte etwas über Belohnung hinzu, da er Gilthanas’ deutliches Zögern als Widerstreben interpretierte, die Verantwortung zu übernehmen.
»Nein, mein Fürst!« Gilthanas schrak zusammen, als er aus seiner Träumerei erwachte. »Eine Belohnung ist nicht notwendig und auch nicht erwünscht. Wenn ich helfen kann, die Bewohner dieser Stadt zu retten, ist das Belohnung genug. In bezug auf die unterschiedlichen Rassen«, Gilthanas warf Tanis einen Blick zu, »habe ich vielleicht genug gelernt, um zu wissen, daß es da eigentlich kaum Unterschiede gibt, daß es sie nie gegeben hat.«
»Sag uns, was wir tun sollen«, sagte Calof ungeduldig.
»Zuerst möchte ich mit Tanis unter vier Augen reden«, antwortete Gilthanas, der bemerkte, daß der Halb-Elf gehen wollte.
»Gewiß. Dort durch die Tür zu deiner Rechten ist ein kleines Zimmer«, deutete der Fürst.
In dem kleinen, luxuriös eingerichteten Zimmer standen sich die beiden Männer in unbehaglichem Schweigen lange Zeit gegenüber. Keiner sah den anderen direkt an. Gilthanas brach schließlich das Schweigen.