Ich erinnere mich noch daran, wie Hassan und ich an jenem Morgen draußen vor dem Arbeitszimmer meines Vaters kauerten, während Baba und Rahim Khan schwarzen Tee tranken und auf Radio Kabul den neuesten Nachrichten über den Staatsstreich lauschten.
»Amir Aga?«, flüsterte Hassan.
»Ja?«
»Was ist eine Republik?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht.« In Babas Radio sagten sie das Wort immer wieder.
»Amir Aga?«
»Ja?«
»Bedeutet Republik, dass Vater und ich von hier weggehen müssen?«
»Das glaube ich nicht«, flüsterte ich zurück.
Hassan dachte darüber nach. »Amir Aga?«
»Ja?«
»Ich will nicht, dass sie Vater und mich wegschicken.«
Ich lächelte. »Bas, du Esel. Niemand schickt dich fort.«
»Amir Aga?«
»Ja?«
»Hast du Lust, auf unseren Baum zu klettern?«
Ich musste lächeln. Das war wieder einmal typisch für Hassan. Er fand doch immer das rechte Wort zur rechten Zeit — und die Nachrichten im Radio wurden allmählich auch langweilig. Hassan ging in seine Hütte, um sich etwas überzuziehen, und ich rannte nach oben, um ein Buch zu holen. Dann lief ich in die Küche, stopfte mir die Taschen mit Pinienkernen voll und rannte nach drau ßen, wo Hassan auf mich wartete. Wir stürmten durch das Eingangstor und machten uns auf den Weg zum Hügel.
Wir überquerten die Wohnstraße und gingen geradeüber ein Stück Ödland, das zum Hügel hinaufführte, als Hassan plötzlich ein Stein im Rücken traf. Wir wirbelten herum, und mir rutschte das Herz in die Hose. Assef und zwei seiner Freunde, Wali und Kamal, kamen auf uns zu.
Assef war der Sohn eines Freundes meines Vaters namens Mahmood, eines Piloten, der bei einer Fluggesellschaft angestellt war. Seine Familie wohnte ein paar Straßen südlich von unserem Haus in einer vornehmen Siedlung mit hohen Mauern und Palmen. Wenn man als Kind im Wazir-Akbar-Khan-Viertel von Kabul lebte, wusste man Bescheid über Assef und seinen berühmten rostfreien Schlagring — hoffentlich ohne schon einmal persönlich dessen Bekanntschaft gemacht zu haben. Als Sohn einer deutschen Mutter und eines afghanischen Vaters überragte der blonde, blauäugige Assef alle anderen Kinder. Der wohlverdiente Ruf seiner Grausamkeit eilte ihm auf den Straßen voraus. Flankiert von seinen gehorsamen Freunden, schritt er durch das Viertel wie ein Khan, der mit seinem Gefolge, das darauf bedacht ist, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, durchs Land zieht. Sein Wort war Gesetz, und wenn man Nachhilfe in Rechtsfragen benötigte, dann war dieser Schlagring genau das richtige Werkzeug. Ich habe einmal gesehen, wie er diesen Schlagring bei einem Kind aus dem Karteh-Char-Viertel eingesetzt hat. Ich werde nie vergessen, wie Assefs blaue Augen dabei funkelten — als wäre er von Sinnen — und wie er grinste, grinste, während er auf das arme Kind einschlug, bis es das Bewusstsein verlor. Einige Jungen im Wazir-Akbar-Khan-Viertel hatten ihm den Spitznamen Assef Goshkhor, Assef der Ohrenfresser, gegeben. Natürlich traute sich keiner, ihm den Namen ins Gesicht zu sagen, um nicht das gleiche Schicksal erleiden zu müssen wie der arme Junge, der, ohne es zu wollen, zum Urheber dieses Spitznamens wurde, als er sich wegen eines Drachens mit Assef prügelte und am Ende sein rechtes Ohr aus der dreckigen Gosse fischen musste. Jahre später lernte ich in Amerika ein Wort für eine Kreatur wie Assef, ein Wort, für das es kein gutes Äquivalent im Farsi gibt: Soziopath.
Von all den Nachbarjungen, die Ali quälten, war Assef bei weitem der unerbittlichste. Er war auch derjenige, der mit den höhnischen Babalu-Bemerkungen angefangen hatte: He, Babalu, wen hast du denn heute gefressen, häh? Komm schon, Babalu, schenk uns ein Lächeln! Und an Tagen, an denen ihn eine ganz besondere Inspiration überkam, verlieh er seinem Gehetze noch ein wenig mehr Würze: He, du flachnasiger Babalu, wen hast du denn heute gefressen? Sag doch, du schlitzäugiger Esel!
Jetzt kam er auf uns zu, die Hände in die Seiten gestemmt. Seine Turnschuhe wirbelten kleine Staubwolken auf.
»Guten Morgen, kunis!«, rief Assef winkend. »Schwuler« gehörte auch zu seinen Lieblingsschimpfworten. Hassan zog sich hinter meinen Rücken zurück, als die drei bedrohlich näher kamen. Sie blieben vor uns stehen, drei groß gewachsene, ältere Jungen in Jeans und T-Shirts. Assef, der uns alle überragte, kreuzte mit einem gefährlich aussehenden Grinsen die kräftigen Arme vor der Brust. Nicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Assef möglicherweise verrückt war. Außerdem fiel mir ein, was für ein Glück ich hatte, Baba zum Vater zu haben, denn das war meiner Ansicht nach der einzige Grund, warum es Assef bisher unterlassen hatte, mich allzu sehr zu schikanieren.
Er deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Hassan. »Hallo, Flachnase«, sagte er. »Wie geht es Babalu?«
Hassan erwiderte nichts, trat nur hinter meinem Rücken noch näher an mich heran.
»Habt ihr schon gehört, Jungs?«, fragte Assef, dessen Grinsen nicht für einen Moment aus seinem Gesicht wich. »Der König ist weg. Ein Glück, dass wir den los sind. Lang lebe der Präsident! Mein Vater kennt Daoud Khan, wusstest du das, Amir?«
»Mein Vater kennt ihn auch«, antwortete ich. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, ob das stimmte.
»Mein Vater kennt ihn auch«, äffte mich Assef mit weinerlicher Stimme nach. Kamal und Wali stießen ein meckerndes Lachen aus. Wenn doch nur Baba bei uns wäre!
»Daoud Khan war letztes Jahr zum Abendessen bei uns«, fuhr Assef fort. »Wie gefällt dir das, Amir?«
Ich fragte mich, ob uns irgendjemand auf diesem abgelegenen Fleckchen Erde würde schreien hören. Babas Haus lag einen guten Kilometer weit entfernt. Wären wir doch nur dort geblieben!
»Weißt du, was ich Daoud Khan beim nächsten Mal erzählen werde, wenn er zum Abendessen zu uns kommt?«, sagte Assef. »Ich werde eine kleine Unterhaltung mit ihm führen, von Mann zu Mann, von mard zu mard. Denn ich habe eine Vision, und die werde ich unserem neuen Präsidenten mitteilen. Weißt du, wie sie aussieht?«
Ich schüttelte den Kopf. Er würde es mir sowieso sagen. Assef beantwortete seine Fragen immer selbst.
Seine blauen Augen richteten sich auf Hassan. »Afghanistan ist das Land der Paschtunen. So ist es immer gewesen, und so wird es auch immer sein. Wir sind die wahren Afghanen, nicht diese Flachnase hier. Seine Leute verpesten unser Heimatland, unser watan. Sie verunreinigen unser Blut.« Er vollführte eine weit ausholende, übertriebene Bewegung mit den Händen. »Afghanistan den Paschtunen, sage ich. Das ist meine Vision.«
Assef wandte den Blick wieder mir zu. Er sah wie jemand aus, der gerade aus einem Traum erwacht war. Er griff nach etwas, das er offenbar in der Gesäßtasche seiner Jeans trug. »Ich werde den Präsidenten bitten, endlich das zu tun, wozu unser König nicht den quwat gehabt hat. Er soll Afghanistan von all den dreckigen, kasseef Hazara befreien. Zu spät für Hitler, aber nicht zu spät für uns.«
»Lass uns doch gehen, Assef«, sagte ich und hasste mich dafür, dass meine Stimme zitterte. »Wir haben dir doch gar nichts getan.«
»Oh doch, das habt ihr«, meinte Assef. »Und du ganz besonders.« Und mir wurde bang ums Herz, als ich sah, was er da aus der Tasche hervorgeholt hatte. Natürlich. Sein rostfreier Schlagring funkelte in der Sonne. »Du ärgerst mich nämlich andauernd. Mehr als dieser Hazara hier. Wie kannst du nur mit ihm reden, mit ihm spielen, dich von ihm anfassen lassen?«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Empörung. Wali und Kamal nickten und grunzten zustimmend. Assef kniff die Augen zusammen. Schüttelte den Kopf. Als er wieder sprach, klang er so verblüfft, wie er aussah. »Wie kannst du ihn nur als deinen Freund bezeichnen?«