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Wir zogen die Handschuhe aus und entledigten uns an der Haustür unserer schneebedeckten Stiefel. Als wir in die Halle traten, fanden wir dort am Ofen sitzend Baba vor, neben ihm ein kleiner Inder mit schütterem Haar, der einen brauen Anzug und eine rote Krawatte trug.

»Hassan«, sagte Baba und lächelte verschämt, »ich möchte dir dein Geburtstagsgeschenk vorstellen.«

Hassan und ich blickten einander verständnislos an. Nirgendwo war ein in Geschenkpapier verpacktes Päckchen zu sehen. Auch keine Tüte. Kein Spielzeug. Nur Ali, der hinter uns stand, und Baba mit diesem zierlichen Inder, der ein wenig wie ein Mathematiklehrer aussah.

Der Inder in dem braunen Anzug lächelte und hielt Hassan zur Begrüßung die Hand hin. »Mein Name ist Dr. Kumar«, sagte er. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen.« Er sprach Farsi mit einem kräftigen, rollenden Hindi-Akzent.

»Salaam alaykum«, sagte Hassan unsicher. Er neigte kurz höflich den Kopf, doch seine Augen suchten seinen Vater, der hinter ihm stand. Ali trat näher und legte die Hand auf Hassans Schulter.

Baba blickte in Hassans misstrauische und verwunderte Augen. »Ich habe Dr. Kumar aus Neu-Delhi kommen lassen. Dr. Kumar ist ein plastischer Chirurg.«

»Weißt du, was das ist?«, fragte Dr. Kumar.

Hassan schüttelte den Kopf. Er blickte Hilfe suchend zu mir hinüber, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Ich wusste bloß, dass ein Chirurg einen heilte, wenn man eine Blinddarmentzündung hatte. Das wusste ich, weil einer meiner Klassenkameraden im Jahr zuvor daran gestorben war und der Lehrer uns erklärt hatte, dass man zu lange damit gewartet habe, ihn zu einem Chirurgen zu bringen. Wir blickten beide zu Ali hinauf, aber bei ihm wusste man natürlich nie so recht, woran man war. Sein Gesicht blickte wie immer ungerührt drein, aber es hatte sich ein ernster Ausdruck in seine Augen geschlichen.

»Nun«, sagte Dr. Kumar, »meine Arbeit besteht darin, Dinge an den Körpern der Menschen in Ordnung zu bringen. Manchmal an ihren Gesichtern.«

»Oh«, sagte Hassan. Er blickte von Dr. Kumar zu Baba und zu Ali. Seine Hand berührte seine Oberlippe.

»Es ist ein ungewöhnliches Geschenk, ich weiß«, sagte Baba. »Und wahrscheinlich nicht das, was du dir vorgestellt hast, aber von diesem Geschenk wirst du immer etwas haben.«

»Oh«, sagte Hassan. Er leckte sich über die Lippen. Räusperte sich. »Aga Sahib, wird es wohl… wird es wohl…«

»Ganz und gar nicht«, unterbrach ihn Dr. Kumar und lächelte freundlich. »Es wird nicht im Geringsten wehtun. Ich werde dir eine Medizin geben, und dann wirst du gar nichts von der ganzen Sache mitbekommen.«

»Oh«, sagte Hassan. Erleichtert erwiderte er das Lächeln. Zumindest ein wenig erleichtert. »Ich hatte keine Angst, Aga Sahib, es war nur…« Hassan mochte ja darauf hereinfallen, aber ich ganz bestimmt nicht. Ich wusste, dass man, wenn Ärzte sagten, es werde nicht wehtun, ganz schön in Schwierigkeiten steckte. Ich erinnerte mich mit Schrecken an meine Beschneidung im Jahr zuvor. Der Arzt hatte mir das Gleiche erzählt, mir versichert, dass es überhaupt nicht wehtun werde. Aber als die betäubende Medizin dann später in der Nacht nachließ, da hatte ich das Gefühl, als ob mir jemand ein glühendes Stück Kohle in die Lenden presste. Warum Baba bis zu meinem zehnten Lebensjahr gewartet hatte, um mich beschneiden zu lassen, war mir ein Rätsel und gehört zu den Dingen, die ich ihm niemals vergeben werde.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Baba und strich Hassan über den Kopf. Plötzlich ergriff Hassan Babas Hände und küsste sie. Dann vergrub er das Gesicht darin. Baba nahm ihn in die Arme.

Dr. Kumar war einen Schritt zurückgetreten und beobachtete sie mit einem routinierten, höflichen Lächeln.

Ich lächelte wie alle anderen, wünschte mir aber insgeheim, auch irgendeine Narbe zu haben, die Babas Mitleid erregte. Es war einfach ungerecht. Hassan hatte nichts getan, um sich Babas Zuneigung zu verdienen; er war bloß mit dieser dummen Hasenscharte zur Welt gekommen.

Die Operation verlief gut. Wir waren alle ein wenig erschrocken, als sie zum ersten Mal die Verbände abnahmen, lächelten aber tapfer weiter, ganz so, wie es uns Dr. Kumar aufgetragen hatte. Es war nicht leicht, denn Hassans Oberlippe war ein wüstes Gebilde aus geschwollenem, rohem Fleisch. Ich rechnete damit, dass Hassan vor Entsetzen aufschreien würde, als die Schwester ihm den Spiegel reichte. Ali hielt seine Hand, als Hassan einen langen, nachdenklichen Blick auf sein Abbild warf. Er flüsterte etwas, was ich nicht verstand. Ich legte mein Ohr an seinen Mund. Er flüsterte es erneut.

»Tashakor.« Danke.

Dann verzogen sich seine Lippen, und dieses Mal wusste ich, was er tat. Er lächelte. Genau wie damals, als er aus dem Leib seiner Mutter herausgekommen war.

Die Schwellung ließ nach, und mit der Zeit heilte die Wunde. Bald schon war nur noch eine rosafarbene, gezackte Linie zu sehen, die von seiner Lippe nach oben verlief. Im folgenden Winter war es nur noch eine blasse Narbe. Was eine gewisse Ironie in sich barg. Denn das war der Winter, in dem Hassan aufhörte zu lächeln.

6

Winter.

Am Tag, wenn der erste Schnee fällt, vollziehe ich jedes Jahr ein Rituaclass="underline" Ich trete am frühen Morgen im Schlafanzug aus dem Haus, die Arme gegen die Kälte um den Körper geschlungen. Ich betrachte die Auffahrt, den Wagen meines Vaters, die Mauern, die Bäume, die Dächer und die Hügel, die unter einer dicken Schneeschicht liegen. Ich lächle. Der Himmel ist makellos blau, der Schnee so weiß, dass meine Augen zu brennen beginnen. Ich schaufele eine Hand voll frischen Schnee in meinen Mund, lausche der gedämpften Stille, die nur von dem Krächzen der Krähen unterbrochen wird. Ich spaziere barfuß die Vordertreppe hinunter und rufe laut Hassans Namen, damit er kommt und es auch sieht.

Der Winter war die Lieblingsjahreszeit der Kinder in Kabul — zumindest wenn ihre Väter es sich leisten konnten, einen guten Eisenofen zu kaufen. Der Grund war einfach: In der eiskalten Zeit blieb die Schule geschlossen. Winter bedeutete für mich das Ende langer Rechenaufgaben und der Pflicht, eine Antwort auf die Frage nach der Hauptstadt von Bulgarien parat zu haben, es bedeutete drei Monate lang Kartenspielen am Ofen mit Hassan, an jedem Dienstagmorgen freien Eintritt für die russischen Filme im Park-Kino und qurma aus Steckrüben auf Reis zum Mittagessen nach einem ganzen Morgen im Schnee.

Und natürlich Drachen steigen lassen. Und hinter ihnen herjagen.

Für ein paar bedauernswerte Kinder bedeutete der Winter nicht das Ende des Schuljahres. Es gab die so genannten freiwilligen Winterkurse. Kein Kind, das ich kannte, meldete sich jemals freiwillig, um an diesem Unterricht teilzunehmen; es waren natürlich die Eltern, die dazu anmeldeten. Glücklicherweise gehörte Baba nicht zu diesen Eltern. Ich erinnere mich noch an einen Jungen, Ahmad war sein Name, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Sein Vater war irgendein Doktor, glaube ich. Ahmad litt an Epilepsie und trug immer eine Wollweste und ein schwarzes Brillengestell mit dicken Gläsern. Er gehörte zu Assefs regelmäßigen Opfern. Jeden Morgen sah ich von meinem Fenster aus zu, wie der Hazara-Diener von Ahmads Familie den Schnee in der Einfahrt wegschaufelte, um den Weg für den schwarzen Opel frei zu machen. Ich wartete immer, bis Ahmad und sein Vater in den Wagen gestiegen waren, Ahmad in seine Wollweste und seinen Wintermantel gehüllt, die Schultasche gefüllt mit Büchern und Bleistiften. Ich sah ihnen nach, bis sie um die Ecke bogen, dann legte ich mich in meinem Flanellschlafanzug wieder ins Bett. Ich zog die Decke bis zum Kinn und betrachtete durch das Fenster die schneebedeckten Berge im Norden. Betrachtete sie, bis ich wieder einschlummerte.

Ich liebte die Winterzeit in Kabul. Ich mochte es, wenn der Schnee nachts leise an mein Fenster klopfte, wenn der frische Schnee unter meinen schwarzen Gummistiefeln knirschte, wenn ein Feuer im gusseisernen Ofen brannte, während draußen der Wind durch die Gärten und Straßen pfiff. Aber am meisten mochte ich, dass das Eis zwischen Baba und mir ein wenig taute, wenn die Bäume und Straßen mit Schnee bedeckt waren. Und der Grund dafür waren die Drachen. Baba und ich lebten wohl im selben Haus, aber in unterschiedlichen Welten. Die Drachen schufen eine zarte Verbindung zwischen diesen beiden Welten.