Jeden Winter veranstalteten die verschiedenen Stadtviertel Kabuls ihre Turniere im Drachensteigen. Und für einen Jungen aus Kabul stellte der Tag des Turniers zweifellos den Höhepunkt der kalten Jahreszeit dar. In der Nacht vor dem Turnier konnte ich nie schlafen. Ich rollte mich von einer Seite auf die andere, zauberte mit den Händen Schattentiere an die Wand, saß sogar in eine Decke gehüllt im Dunkeln auf dem Balkon. Ich kam mir wie ein Soldat vor, der in der Nacht vor einem großen Kampf versucht, im Schützengraben zu schlafen. Und so abwegig war dieser Vergleich gar nicht. Wenn in Kabul der Kampf der Drachen bevorstand, war das ein wenig so, als ob man in den Krieg zog.
Und wie in jedem Krieg musste man sich für die Schlacht rüsten. Eine ganze Weile bauten Hassan und ich unsere Drachen selbst. Wir sparten im Herbst unser wöchentliches Taschengeld, ließen es in ein kleines Porzellan pferd fallen, das Baba irgendwann einmal aus Herat mitgebracht hatte. Wenn die Winterwinde zu blasen begannen und der Schnee in dicken Flocken fiel, lösten wir den Verschluss unter dem Bauch des Pferdes. Wir gingen zum Basar und kauften Bambus, Leim, Schnur und Papier. Wir verbrachten jeden Tag Stunden damit, den Bambus für die Längs- und die Querleisten zu hobeln, das hauchdünne Seidenpapier zurechtzuschneiden, das die raschen Sinkflüge und das schnelle Aufsteigen des Drachens erleichterte. Und dann mussten wir natürlich unsere eigene Schnur, die tar, herstellen. Wenn der Drachen das Gewehr verkörperte, dann stellte die tar die Munition dar: Wir gingen in den Garten hinaus und zogen bis zu hundertfünfzig Meter Schnur durch eine Mischung aus zerstoßenem Glas und Leim. Dann spannten wir sie zum Trocknen zwischen den Bäumen auf. Am nächsten Tag wickelten wir die einsatzbereite Schnur um eine Holzspule. Wenn der Schnee schmolz und die Re genfälle des Frühjahrs einsetzten, hatte jeder Junge in Kabul von einem Winter voller Drachenkämpfe verräterische tiefe, horizontale Schnitte an den Fingern. Ich weiß noch, wie meine Klassenkameraden und ich uns am ersten Schultag zusammendrängten und unsere Kampfwunden verglichen. Die Schnitte schmerzten und heilten nur schwer, aber das war mir egal. Sie erinnerten mich an eine geliebte Jahreszeit, die wieder einmal viel zu schnell vergangen war. Dann blies der Klassenführer in seine Pfeife, und wir marschierten im Gänsemarsch in unsere Zimmer und sehnten uns schon wieder nach dem Winter, doch zunächst stand uns ein weiteres langes Schuljahr bevor.
Es wurde schnell deutlich, dass Hassan und ich besser darin waren, einen Drachen steigen zu lassen, als ihn zu bauen. Irgendein Fehler in der Konstruktion wurde ihm immer zum Verhängnis.
Daher nahm uns Baba mit zu Saifo, um uns bei ihm die Drachen zu kaufen. Saifo war ein alter Mann, beinahe blind und eigentlich ein moochi, ein Schuster. Aber daneben war er der beste Drachenbauer der Stadt. Er arbeitete in einer armseligen Hütte an der Jadeh Maywand, jener belebten Straße südlich der schmutzigen Ufer des Kabul-Flusses. Ich weiß noch, dass man sich bücken musste, um den Laden zu betreten, der kaum größer als eine Gefängniszelle war, und dann musste man noch eine Falltür öffnen, um ein paar Holzstufen in den feuchten Keller hinunterzuklettern, in dem Saifo seine begehrten Drachen aufbewahrte. Baba kaufte jedem von uns drei völlig gleiche Drachen und eine Spule Glasschnur. Wenn ich es mir anders überlegte und um einen größeren, kunstvolleren Drachen bat, kaufte Baba ihn mir, kaufte aber den gleichen auch für Hassan. Manchmal wäre es mir lieber gewesen, er hätte das nicht getan. Manchmal wäre ich gern ganz allein sein Liebling gewesen.
Das Drachenturnier hatte ein lange Tradition in den Wintern Afghanistans. Es begann früh am Morgen und endete erst, wenn nur noch der Drachen des Gewinners am Himmel stand — einmal dauerte das Turnier sogar bis nach Einbruch der Dunkelheit. Die Leute versammelten sich auf Gehsteigen und Dächern, um ihre Kinder anzufeuern. Die Straßen füllten sich mit Drachenkämpfern, die an ihren Schnüren ruckten und zerrten, zum Himmel hinaufspähten, versuchten, sich in Position zu bringen, um die Schnur des Gegners zu zerschneiden. Jeder Drachenkämpfer hatte einen Helfer — in meinem Fall Hassan —, der die Spule hielt und bei Bedarf mehr Schnur gab.
Einmal erzählte uns ein verzogener Hindi-Junge, dessen Familie kürzlich in die Nachbarschaft gezogen war, dass das Drachenkämpfen in seiner Heimatstadt strengen Regeln und Vorschriften unterliege. »Man tritt in einem abgegrenzten Gebiet gegeneinander an und darf nur in einem rechten Winkel zum Wind stehen«, erklärte er stolz. »Und man darf keine Kunstfaser statt der Glasschnur benutzen.«
Hassan und ich warfen uns einen Blick zu und brachen in schallendes Gelächter aus. Der Hindi-Junge würde bald lernen, was die Briten bereits früher im Jahrhundert gelernt hatten und was die Russen schließlich in den spä ten Achtzigern lernen würden: dass Afghanen ihre Unab hängigkeit lieben. Afghanen sind Sitten und Bräuche lieb und teuer, aber sie verabscheuen Regeln. Und so war es auch beim Drachenkampf. Es gab nur eine Regel, nämlich, dass es keine Regeln gab. Lass deinen Drachen flie gen. Schneide die Gegner. Viel Glück.
Aber das war noch nicht alles. Der wirkliche Spaß begann erst, wenn die Schnur eines Drachens durchtrennt war. Dann kamen die Drachenläufer ins Spiel, die Kinder, die dem windzerzausten Drachen hinterherjagten, bis er in einer Spirale auf einem Feld herunterkam, in jemandes Garten fiel, in einem Baumwipfel oder auf einem Dach landete. Die Jagd wurde ziemlich erbittert geführt — Horden von Drachenläufern schwärmten durch die Straßen, drängten sich schubsend aneinander vorbei wie diese Leute in Spanien, über die ich einmal gelesen hatte, die vor den Stieren herlaufen. In einem Jahr kletterte ein usbekischer Junge wegen eines Drachens auf eine hohe Kiefer. Ein Ast gab unter seinem Gewicht nach, und der Junge fiel beinahe zehn Meter in die Tiefe. Er brach sich das Genick und konnte nie wieder laufen. Aber als er fiel, hielt er den Drachen in den Händen. Und wenn ein Drachenläufer einmal einen Drachen in den Händen hielt, konnte ihm den niemand mehr streitig machen. Das war keine Regel. So war der Brauch.
Der begehrteste Preis für einen Drachenläufer war der letzte abgestürzte Drachen eines Winterturniers. Er war eine echte Trophäe, etwas, was man auf dem Kaminsims zur Schau stellte, damit die Gäste es bewundern konnten. Wenn die Drachen am Himmel immer weniger wurden und schließlich nur noch die beiden letzten übrig waren, machten sich alle Drachenläufer bereit, diesen Preis zu ergattern. Jeder versuchte, sich in die aussichtsreichste Position zu bringen, spannte die Muskeln an, reckte den Hals. Die Augen verengten sich zu Schlitzen. Kämpfe brachen aus. Und wenn die Leine des letzten Drachens durchtrennt war, brach die Hölle los.
Über die Jahre hatte ich eine Menge Jungen dabei beobachtet, wie sie Drachen hinterherjagten. Aber Hassan war bei weitem der beste Drachenläufer, den ich je gesehen hatte. Es war schon fast unheimlich, wie er jedes Mal, bevor der Drachen überhaupt gelandet war, bereits an der richtigen Stelle stand — ganz so, als besäße er einen inneren Kompass.
Ich weiß noch, wie Hassan und ich an einem bedeckten Wintertag einen Drachen verfolgten. Ich hetzte hinter ihm her, sprang über Rinnsteine, schlängelte mich durch enge Straßen. Ich war ein Jahr älter als er, aber Hassan war der bessere Läufer, und ich fiel schon bald zurück.
»Hassan! Warte!«, rief ich mit heißem, keuchendem Atem.
Er wirbelte herum und vollführte eine Bewegung mit der Hand. »Hier entlang!«, rief er, bevor er um die nächste Ecke bog. Ich blickte nach oben, sah, dass die Richtung, in die wir rannten, genau entgegengesetzt zu der lag, in die der Drachen trieb.