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»Wir verlieren ihn! Wir laufen in die falsche Richtung!«

»Vertrau mir!«, hörte ich ihn irgendwo vorn rufen. Ich erreichte die Ecke und sah Hassan mit gesenktem Kopf davonsausen, ohne auch nur ein einziges Mal zum Himmel hinaufzublicken. Der Rücken seines Hemdes war schweißnass. Ich stolperte über einen Stein und fiel hin — ich war nicht nur langsamer als Hassan, sondern auch weniger geschickt; ich hatte ihn immer um sein sportliches Talent beneidet.

Als ich mich wieder aufrappelte, sah ich gerade noch, wie Hassan um eine weitere Straßenecke verschwand. Ich hinkte hinter ihm her, während ein stechender Schmerz mein aufgeschürftes Knie durchzuckte.

Ich sah, dass wir auf einer ausgefahrenen unbefestigten Straße in der Nähe der Istiqlal-Mittelschule angelangt waren. Auf einer Seite befand sich ein Feld, auf dem im Sommer Salat wuchs, und auf der anderen eine Reihe von Sauerkirschbäumen. Ich entdeckte Hassan am Fuße eines Baumes, wo er es sich im Schneidersitz bequem gemacht hatte und eine Hand voll getrockneter Maulbeeren aß.

»Was machen wir hier?«, fragte ich keuchend. Mir war speiübel.

Er lächelte. »Setz dich zu mir, Amir Aga.«

Ich ließ mich mit pfeifendem Atem neben ihm auf einem schmalen Streifen Schnee nieder. »Du verschwendest unsere Zeit. Er ist in die andere Richtung geflogen, hast du das denn nicht gesehen?«

Hassan steckte sich eine Maulbeere in den Mund. »Er wird kommen«, sagte er. Ich rang nach Luft, und er klang nicht einmal erschöpft.

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich.

»Ich weiß es einfach.«

»Wie kannst du das wissen?«

Er wandte sich zu mir um. »Würde ich dich jemals anlügen, Amir Aga?«

Mir kam die Idee, ein wenig mit ihm zu spielen. »Ich weiß nicht. Würdest du?«

»Eher würde ich Dreck essen«, erwiderte er entrüstet.

»Würdest du das wirklich?«

Er warf mir einen verwirrten Blick zu. »Würde ich was?«

»Dreck essen, wenn ich es von dir verlangen würde«, entgegnete ich. Ich wusste, dass ich grausam war, genau wie wenn ich ihn verhöhnte, weil er irgendein schwieri ges Wort nicht kannte. Aber Hassan aufzuziehen hatte irgendwie etwas Faszinierendes –wenn auch auf eine kranke Art. So als würden wir Insektenfoltern spielen. Bloß war er jetzt die Ameise, und ich hielt das Vergrößerungsglas in der Hand.

Seine Augen blickten lange forschend in mein Gesicht. Da saßen wir, zwei Jungen unter einem Sauerkir schenbaum, die sich plötzlich ansahen, wirklich ansahen. Und da geschah es wieder. Hassans Gesicht veränderte sich. Nun, vielleicht wäre verändern zu viel gesagt, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob ich in zwei Gesichter blickte — das, das ich kannte, das zu meinen frühesten Erinnerungen gehörte, und das andere, ein zweites Gesicht, das unter der Oberfläche lauerte. Ich war schon öfter Zeuge dieses Geschehens gewesen — und es nahm mich jedes Mal mit. Dieses andere Gesicht tauchte einfach einen Moment lang auf, lange genug, um bei mir das beunruhigende Gefühl hervorzurufen, dass ich es möglicherweise schon einmal irgendwo gesehen hatte. Dann blinzelte Hassan, und er war wieder er selbst. Nur Hassan.

»Wenn du mich darum bitten würdest, würde ich es tun«, sagte er schließlich und blickte mir dabei geradewegs in die Augen. Ich senkte den Blick. Bis zum heutigen Tag fällt es mir schwer, Menschen wie Hassan, Menschen, die genau das meinen, was sie sagen, in die Augen zu sehen.

»Aber ich frage mich«, fügte er hinzu, »ob du mich jemals um so etwas bitten würdest, Amir Aga.« Und ehe ich mich versah, hatte er mich seinem eigenen kleinen Test unterzogen. Wenn ich mit ihm spielte und seine Loyalität in Frage stellte, dann würde auch er mit mir spielen und meine Integrität testen.

Ich wünschte, ich hätte diese Unterhaltung nie angefangen. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Sei nicht albern, Hassan. Du weißt, dass ich das niemals tun würde.«

Hassan erwiderte mein Lächeln. Nur wirkte das seine nicht im Geringsten gezwungen. »Ich weiß«, sagte er. Und so ist das eben mit Menschen, die alles so meinen, wie sie es sagen. Sie glauben, dass alle anderen das auch tun.

»Da kommt er ja«, sagte er und deutete zum Himmel hinauf. Er sprang auf die Füße und ging ein paar Schritte nach links. Ich blickte hinauf und sah, wie der Drachen direkt in unsere Richtung herabgestürzt kam. Ich vernahm Schritte, Rufe, eine sich nähernde Horde von Drachenläufern. Doch sie verschwendeten ihre Zeit. Denn Hassan stand mit ausgebreiteten Armen lächelnd da und wartete auf den Drachen. Und Gott — wenn er denn überhaupt existiert — möge mich mit Blindheit strafen, wenn der Drachen nicht direkt in seine ausgebreiteten Arme fiel.

Im Winter 1975 sah ich zum letzten Mal, wie Hassan Jagd auf einen Drachen machte.

Für gewöhnlich hielt jedes Stadtviertel seinen eigenen Wettbewerb ab. Aber in dem Jahr fand das Turnier in meiner Nachbarschaft, dem Wazir-Akbar-Khan-Viertel statt, und einige andere Stadtteile — Karteh-Char, Karteh-Parwan, Mekro-Rayan und Koteh-Sangi — waren eingeladen. Man konnte praktisch nirgendwo mehr hingehen, ohne dass die Rede auf das bevorstehende Turnier kam. Es hieß, dies würde das größte Turnier seit fünfundzwanzig Jahren werden.

An einem Abend in jenem Winter, als der große Wettbewerb nur noch vier Tage entfernt war, saßen Baba und ich beim Schein des Kaminfeuers in seinem Arbeitszimmer in den gepolsterten Ledersesseln. Wir tranken Tee und unterhielten uns. Ali hatte schon das Abendessen serviert — Kartoffeln und mit Curry zubereiteter Blumenkohl auf Reis — und sich mit Hassan für die Nacht zu rückgezogen. Baba stopfte seine Pfeife, und ich hatte ihn gerade gebeten, mir die Geschichte von dem Winter zu erzählen, in dem ein Wolfsrudel aus den Bergen Herats heruntergekommen war und alle gezwungen hatte, eine ganze Woche nicht vor die Tür zu gehen, als er ein Streichholz entzündete und beiläufig sagte: »Ob du wohl dieses Jahr das Turnier gewinnen wirst? Was meinst du?«

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Oder dazu sagen sollte. Ob ich es damit schaffen würde? Hätte es einen deutlicheren Wink mit dem Zaunpfahl geben können? Ich war ein guter Drachenkämpfer. Eigentlich sogar ein sehr guter. Einige Male hatte ich kurz davor gestanden, das Winterturnier zu gewinnen — einmal war ich sogar unter den drei Letzten gewesen. Aber kurz davor zu stehen, war nicht das Gleiche wie zu gewinnen, nicht wahr? Baba hatte nicht nur kurz davor gestanden. Er hatte gewonnen, weil Gewinner das eben tun, und alle anderen mussten mit leeren Händen nach Hause gehen. Baba war es gewöhnt zu gewinnen — bei allem, was er sich vornahm. Hatte er da nicht das Recht, das Gleiche von seinem Sohn zu erwarten? Und man stelle sich das einmal vor — wenn ich wirklich gewinnen würde…

Baba rauchte seine Pfeife und redete. Ich tat so, als hörte ich ihm zu. Aber ich konnte nicht zuhören, nicht richtig, denn Babas beiläufiger kleiner Kommentar hatte mir einen Floh ins Ohr gesetzt: Ich nahm mir vor, in jenem Winter das Turnier zu gewinnen. Mein Entschluss stand fest. Es gab keine Alternative. Ich würde gewinnen, und ich würde jenen letzten Drachen erringen. Dann würde ich ihn mit nach Hause bringen und Baba zeigen. Ihm ein für alle Mal beweisen, dass sein Sohn etwas wert war. Dann würde mein Leben als Geist in diesem Haus vielleicht endlich vorüber sein. Ich gab mich meinen Träumen hin, stellte mir Gespräche und Lachen beim Abendessen vor statt Stille, die nur vom Klirren des Tafelsilbers und einem gelegentlichen Brummen unterbrochen wurde. Ich stellte mir vor, wie wir freitags in Babas Wagen eine Fahrt nach Paghman unternahmen und dabei unterwegs am Ghargha-See Halt machten, um gebratene Forelle und Kartoffeln zu essen. Wir würden in den Zoo gehen, um Marjan, den Löwen, zu sehen, und vielleicht würde Baba nicht gähnen und die ganze Zeit verstohlene Blicke auf seine Armbanduhr werfen. Vielleicht würde Baba sogar eine meiner Geschichten lesen. Ich würde ihm hundert schreiben, wenn ich wüsste, dass er auch nur eine einzige lesen würde. Vielleicht würde er mich Amir jan nennen, wie Rahim Khan es tat. Und vielleicht… aber auch nur vielleicht… würde er mir endlich verzeihen, dass ich meine Mutter getötet hatte.