Baba erzählte mir von der Zeit, als er an einem einzigen Tag die Seile von vierzehn Drachen durchtrennt hatte. Ich lächelte, nickte, lachte an den richtigen Stellen, aber ich hörte kaum ein Wort von dem, was er sagte. Ich hatte jetzt eine Aufgabe. Und ich würde Baba nicht enttäuschen. Dieses Mal nicht.
Am Abend vor dem Turnier schneite es kräftig. Hassan und ich saßen am kursi und spielten panjpar, während der Wind die Zweige ans Fenster schlagen ließ. Ei nige Zeit davor hatte ich Ali gebeten, den kursi für uns aufzubauen, der eigentlich nur ein elektrischer Ofen unter einem niedrigen Tisch war, der mit einer dicken Steppdecke bedeckt wurde. Um den Tisch legte Ali Matratzen und Kissen, sodass bis zu zwanzig Leute daran sitzen und ihre Beine unter die Decke stecken konnten. Hassan und ich verbrachten ganze verschneite Tage am kursi, spielten Schach oder Karten — meist panjpar.
Ich stach Hassans Karozehn, spielte zwei Buben und eine Sechs aus. Nebenan, in Babas Arbeitszimmer, diskutierten Baba und Rahim Khan mit zwei anderen Männern geschäftliche Angelegenheiten. Einer von ihnen war Assefs Vater. Durch die Wand konnte ich die kratzenden Klänge der Nachrichten auf Radio Kabul hören.
Hassan stach die Sechs und nahm die Buben auf. Im Radio kündigte Daoud Khan ausländische Investitionen an.
»Er sagt, dass wir eines Tages Fernsehen in Kabul haben werden«, verkündete ich.
»Wer?«
»Daoud Khan, du Idiot, der Präsident.«
Hassan kicherte. »Ich habe gehört, dass sie das im Iran schon haben«, sagte er.
Ich seufzte. »Diese Iraner…« Für viele Hazara verkörperte der Iran in gewisser Weise ein Heiligtum — wahrscheinlich, weil die meisten Iraner, wie die Hazara, Schiiten waren. Aber mir fiel etwas ein, was mein Lehrer in jenem Sommer über die Iraner gesagt hatte: dass sie grinsende Schönredner seien, die dir mit der einen Hand auf den Rücken klopften und mit der anderen den Geld beutel aus der Tasche stahlen. Ich erzählte Baba davon, und er erwiderte, mein Lehrer sei einer dieser eifersüchtigen Afghanen, eifersüchtig, weil der Iran eine aufstrebende Macht in Asien darstellte und die meisten Leute auf der Welt nicht einmal wussten, wo Afghanistan lag. »Es tut weh, das zu sagen«, erklärte er schulterzuckend.
»Aber es ist besser, von der Wahrheit verletzt als mit einer Lüge getröstet zu werden.«
»Ich werde dir eines Tages einen kaufen«, sagte ich.
Hassans Miene hellte sich auf. »Einen Fernseher? Ehrlich?«
»Klar. Und nicht bloß so ein Schwarzweißding. Wir werden dann wahrscheinlich schon erwachsen sein, aber ich werde uns zwei holen. Einen für dich und einen für mich.«
»Ich würde ihn auf den Tisch stellen, wo ich meine Zeichnungen aufbewahre«, verkündete Hassan.
Das machte mich irgendwie traurig. Ich bedauerte Hassan für das, was er war, wo er lebte. Und dafür, wie er die Tatsache akzeptiert hatte, dass er in dieser Lehmhütte im Garten alt werden würde wie sein Vater vor ihm. Ich zog die letzte Karte, spielte zwei Damen und eine Zehn aus.
Hassan nahm die Damen auf. »Ich glaube, du wirst Aga Sahib morgen sehr stolz machen.«
»Glaubst du wirklich?«
»Inshallah«, sagte er.
»Inshallah«, sagte auch ich, obwohl es aus meinem Mund nicht so aufrichtig klang. So war das eben mit Hassan. Er war so verdammt ehrlich, dass man sich neben ihm immer wie ein Betrüger vorkam.
Ich stach seinen König und spielte meine letzte Karte aus, das Pikass. Er musste es aufnehmen. Ich hatte ge wonnen, aber als er die Karten für eine weitere Runde mischte, wurde ich den Verdacht nicht los, dass Hassan mich hatte gewinnen lassen.
»Amir Aga.«
»Ja?«
»Es gefällt mir gut, wo ich wohne, weißt du.« Das machte er andauernd. Ständig las er meine Gedanken. »Es ist mein Zuhause.«
»Wie du meinst«, sagte ich. »Jedenfalls wirst du auch die nächste Runde verlieren, da bin ich mir sicher.«
7
Am nächsten Morgen, als er den schwarzen Tee für das Frühstück aufbrühte, erzählte mir Hassan von einem Traum, den er gehabt hatte. »Wir waren am Ghargha-See, du und ich, Vater, Aga Sahib, Rahim Khan und Tausende von Menschen«, sagte er. »Es war ein warmer, sonniger Tag, und der See war so klar wie ein Spiegel. Aber niemand traute sich ins Wasser, weil sich angeblich ein Ungeheuer darin versteckte. Es lauert am Grund, hieß es.«
Er goss mir eine Tasse ein, tat Zucker dazu und blies einige Male auf den Tee, ehe er die Tasse vor mir abstellte. »Deshalb hat also jeder Angst, ins Wasser zu gehen, aber plötzlich schleuderst du deine Schuhe fort, Amir Aga, und ziehst dein Hemd aus. ›Da gibt es gar kein Un geheuer‹, behauptest du. ›Ich werde es euch beweisen. Und bevor dich jemand aufhalten kann, hechtest du ins Wasser und schwimmst davon. Ich folge dir, und wir schwimmen auf den See hinaus.«
»Aber du kannst doch gar nicht schwimmen.«
Hassan lachte. »Es ist ein Traum, Amir Aga! In einem Traum kann man alles. Jedenfalls schreien alle: ›Kommt da raus! Kommt da raus!‹, aber wir schwimmen einfach weiter in dem kalten Wasser. Wir schaffen es bis zur Mitte des Sees. Dort drehen wir uns zum Ufer um und winken den Leuten zu. Sie sehen klein aus, wie Ameisen, aber wir können sie klatschen hören. Da begreifen sie: Es gibt gar kein Ungeheuer, nur Wasser. Daraufhin ändern sie den Namen des Sees und nennen ihn von nun an ›Der See von Amir und Hassan, den Sultanen von Kabul‹, und wir dürfen Geld dafür nehmen, wenn die Leute darin schwimmen wollen.«
»Und was hat das jetzt zu bedeuten?«, fragte ich.
Er bestrich mein naan mit Marmelade und legte es auf einen Teller. »Ich weiß es nicht. Ich hatte gehofft, dass du es mir sagen könntest.«
»Nun, es ist ein dummer Traum. Es geschieht ja gar nichts darin.«
»Vater sagt, dass Träume immer etwas zu bedeuten haben.«
Ich trank einen Schluck Tee. »Warum fragst du dann nicht ihn, wenn er so klug ist«, sagte ich in einem schärferen Ton, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Mein Nacken und mein Rücken waren wie zusammengedrückte Sprungfe dern, und meine Augen brannten. Dennoch, ich war gemein zu Hassan gewesen. Beinahe hätte ich mich bei ihm entschuldigt, tat es aber dann doch nicht. Hassan würde verstehen, dass ich einfach nervös war. Hassan verstand immer alles, was mich betraf.
Oben in Babas Badezimmer hörte ich das Wasser laufen.
Der frisch gefallene Schnee glitzerte auf den Straßen, und der Himmel war makellos blau. Der Schnee bedeckte jedes Dach und lastete auf den Zweigen der verkümmerten Maulbeerbäume, die unsere Straße säumten. Über Nacht war der Schnee in alle Ritzen und Spalten gedrungen. Ich schaute blinzelnd in das blendende Weiß, als Hassan und ich durch das schmiedeeiserne Tor traten. Ali schloss das Tor hinter uns. Ich hörte, wie er leise ein Gebet sprach — das tat er immer, wenn sein Sohn das Haus verließ.
Ich hatte noch nie so viele Menschen in unserer Straße gesehen. Kinder warfen Schneebälle, zankten sich, jagten hintereinander her, kicherten. Drachenkämpfer und ihre Helfer steckten die Köpfe zusammen, trafen letzte Vorbereitungen. Aus angrenzenden Straßen vernahm ich Lachen und Geplapper. Die Dächer waren schon voller Zuschauer, die es sich auf Gartenstühlen bequem gemacht hatten. Heißer Tee dampfte aus Thermoskannen, und die Musik von Ahmad Zahir plärrte aus den Kassettenrecordern. Der unglaublich populäre Ahmad Zahir hatte die afghanische Musik revolutioniert und die Puristen empört, weil er den traditionellen Musikinstrumenten tabla und Harmonium elektrische Gitarren, Schlagzeug und Bläser hinzugefügt hatte; auf der Bühne oder auf Partys setzte er sich über die vorgeschriebene strenge, ja abweisende Haltung der älteren Sänger hinweg und lächelte doch tatsächlich beim Singen — lächelte manchmal sogar Frauen zu. Ich wandte meinen Blick zu unserem Dach und entdeckte dort oben Baba und Rahim Khan, die in dicke Wollpullover gekleidet auf einer Bank saßen und Tee tranken. Baba winkte. Ich konnte nicht erkennen, ob es mir oder Hassan galt.