»Wir sollten uns bereitmachen«, sagte Hassan. Er trug schwarze Schneestiefel aus Gummi, einen leuchtend grünen chapan-Umhang über einem dicken Pullover und abgewetzte Cordhosen. Sonnenlicht ergoss sich über sein Gesicht, und ich sah, wie gut die rosafarbene Narbe über seiner Lippe verheilt war.
Plötzlich wäre ich am liebsten gar nicht erst angetreten. Hätte am liebsten alles wieder eingepackt, um nach Hause zurückzukehren. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Warum tat ich mir das an, wo ich doch bereits wusste, wie es ausgehen würde? Baba saß auf dem Dach, beobachtete mich. Ich fühlte, wie mich sein sengend heißer Blick traf. Das hier würde selbst für meine Verhältnisse ein Versagen auf der ganzen Linie bedeuten.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute Drachen steigen lassen möchte«, erklärte ich.
»Aber es ist doch ein wunderschöner Tag«, entgegnete Hassan.
Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Versuchte, meinen Blick von unserem Dach abzuwenden. »Ich weiß nicht so recht. Vielleicht sollten wir besser wieder nach Hause gehen.«
Er trat auf mich zu und sagte mit leiser Stimme etwas, das mir ein wenig Angst einjagte: »Vergiss nicht, Amir Aga. Es gibt kein Ungeheuer, bloß einen wunderschönen Tag.« Wie konnte ich nur solch ein offenes Buch für ihn sein, wenn ich selbst die meiste Zeit keine Ahnung hatte, was in seinem Kopf vor sich ging? Ich war doch derjenige, der die Schule besuchte, der lesen und schreiben konnte. Ich war der Kluge. Hassan konnte nicht einmal mit einem Lesebuch der ersten Klasse etwas anfangen, aber mich hatte er durchschaut. Es war beunruhigend, aber in gewisser Weise auch bequem, jemanden zu haben, der immer wusste, was man gerade brauchte.
»Kein Ungeheuer«, sagte ich und fühlte mich zu meiner Überraschung etwas besser.
Er lächelte. »Kein Ungeheuer.«
»Bist du dir auch ganz sicher?«
Er schloss die Augen. Nickte.
Ich blickte zu den Kindern hinüber, die auf der Straße herumtollten, Schneebälle warfen. »Es ist wirklich ein wunderschöner Tag, nicht wahr?«
»Lass uns Drachen jagen«, sagte er.
Mir kam der Gedanke, dass Hassan seinen Traum erfunden haben könnte. War das möglich? Nein, eigentlich nicht. Dazu war Hassan nicht klug genug. Und ich auch nicht. Aber ob erfunden oder nicht, der alberne Traum hatte mir etwas von meiner Angst genommen. Vielleicht sollte ich wirklich mein Hemd ausziehen und eine Runde im See schwimmen. Warum nicht?
»Ja, lass uns Drachen jagen«, sagte ich.
Hassans Miene hellte sich auf. »Gut«, sagte er. Er hob unseren Drachen in die Höhe. Er war rot mit einem gelben Rand, und direkt unter der Stelle, wo sich die Längs und die Querleiste kreuzten, befand sich Saifos unverkennbare Signatur. Hassan leckte an seinem Finger und hielt ihn in die Höhe, um festzustellen, woher der Wind kam, und rannte dann in die Richtung, aus der es blies — bei den seltenen Gelegenheiten, wenn wir unsere Drachen im Sommer steigen ließen, wirbelte er mit einem Tritt etwas Staub auf, um zu sehen, aus welcher Richtung der Wind wehte. Die Spule drehte sich in meinen Händen, bis Hassan in ungefähr hundertfünfzig Metern Entfernung stehen blieb. Er hielt den Drachen hoch über seinen Kopf, wie ein Sportler bei den Olympischen Spielen, der seine Goldmedaille zeigt. Ich ruckte zweimal an der Schnur, unser übliches Zeichen, und Hassan versetzte dem Drachen einen leichten Schubser.
Gefangen zwischen Baba und den Mullahs in der Schule hatte ich mir, was Gott betraf, noch keine eigene Meinung gebildet. Aber als mir ein Koranvers einfiel, den ich im diniyat-Unterricht in der Schule gelernt hatte, murmelte ich ihn vor mich hin. Ich holte tief Luft, atmete aus und zog an der Schnur. Eine volle Minute lang schoss mein Drachen gen Himmel. Es hörte sich an wie ein Papiervogel, der mit den Flügeln schlägt. Hassan klatschte in die Hände, pfiff und rannte wieder zu mir zurück. Ich reichte ihm die Spule, hielt die Schnur fest, und er drehte rasch die Spule, um das lockere Stück Schnur wieder aufzurollen.
Mindestens zwei Dutzend Drachen befanden sich bereits am Himmel. Sie glichen kleinen Papierhaien auf der Suche nach Beute. Innerhalb einer Stunde verdoppelte sich ihre Zahl, und rote, blaue und gelbe Drachen segelten im Wind dahin und tanzten am Himmel. Eine kalte Brise wehte durch mein Haar. Es war der ideale Wind, um Drachen steigen zu lassen — gerade kräftig genug, um Auftrieb zu geben oder sie herabschießen zu lassen. Neben mir hielt Hassan die Spule. Seine Hände waren bereits ganz blutig.
Bald schon fing das Schneiden an, und der erste der unterlegenen Drachen wirbelte unkontrolliert herum. Die Drachen fielen mit leuchtend bunten, sich kräuselnden Schwänzen vom Himmel und füllten die Viertel unten mit Preisen für die Drachenläufer an. Ich konnte bereits hören, wie sie brüllend die Straßen entlangliefen. Irgendjemand berichtete mit lauter Stimme von einem Kampf, der zwei Straßen weiter ausgebrochen war.
Ich blickte immer wieder verstohlen zu Baba hinüber, der dort oben mit Rahim Khan auf dem Dach saß, und fragte mich, was er wohl denken mochte. Ob er mich anfeuerte? Oder genoss es ein Teil von ihm, mich dabei zu beobachten, wie ich versagte? Das war eben so eine Sache, wenn man Drachen steigen ließ: Die Gedanken wurden mit dem Drachen davongetragen.
Die Drachen kamen jetzt überall herunter, und meiner flog immer noch. Meiner flog immer noch! Meine Blicke wanderten immer wieder zu Baba hinüber, der nun in einen Wollmantel gehüllt dasaß. Ob er überrascht war, dass ich so lange durchgehalten hatte? Du wirst nicht mehr lange durchhalten, wenn du deinen Blick nicht auf den Himmel richtest. Meine Augen huschten wieder zu meinem Drachen hinauf. Gerade noch rechtzeitig, denn ein roter Drache kam ihm bedrohlich nahe. Ich ließ mich auf das Spiel ein, schlug ihn aber am Ende, als sein Besitzer ungeduldig wurde und versuchte, mich von unten zu schneiden.
Links und rechts auf der Straße kehrten Drachenläufer triumphierend zurück und reckten die eroberten Drachen in die Höhe.
Sie gaben damit vor ihren Eltern und Freunden an. Aber sie alle wussten, dass das Beste noch bevorstand. Der größte Preis von allen war noch da oben. Ich schnitt einen leuchtend gelben Drachen mit einem sich ringeln den Schwanz. Das brachte mir eine weitere Verletzung am Zeigefinger ein, und das Blut tropfte mir in die Handfläche. Ich ließ Hassan die Leine halten, saugte an der Stelle, bis kein Blut mehr kam, und tupfte den Finger an meiner Jeans ab.
Innerhalb einer Stunde war die Zahl der überlebenden Drachen von ungefähr fünfzig auf ein Dutzend geschrumpft. Mein Drache gehörte noch dazu. Ich hatte es bis zum letzten Dutzend geschafft. Ich wusste, dass dieser Teil des Turniers eine Weile dauern würde, denn die Jungen, die bis hierher gekommen waren, waren gut –die würden nicht so ohne weiteres auf simple Tricks hereinfallen wie das gute alte Aufsteigen- und dann Herabsausenlassen, das Hassan so liebte.
Um drei Uhr zogen Wolkenschleier auf, hinter denen sich die Sonne versteckte. Die Schatten wurden länger. Die Zuschauer auf den Dächern hüllten sich nun alle in Schals und dicke Mäntel. Es war nurmehr ein halbes Dutzend Drachen übrig, doch meiner war immer noch dabei. Meine Beine schmerzten, und mein Nacken war ganz steif. Aber mit jedem besiegten Drachen wuchs die Hoffnung in meinem Herzen wie Schnee, der sich auf einer Mauer sammelt, Flöckchen um Flöckchen.