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Meine Augen kehrten immer wieder zu dem blauen Drachen zurück, der in der letzten Stunde so viel Schaden angerichtet hatte.

»Wie viele hat er runtergeholt?«, fragte ich.

»Ich habe elf gezählt«, antwortete Hassan.

»Weißt du, wem er gehören könnte?«

Hassan schnalzte mit der Zunge und neigte das Kinn. Es war eine typische Hassan-Geste und bedeutete, dass er keine Ahnung hatte. Der blaue Drachen schnitt einen großen lilafarbenen und vollführte zwei Loopings. Zehn Minuten später hatte er zwei weitere geschnitten und da mit Horden von Drachenläufern in Bewegung versetzt.

Nach einer weiteren halben Stunde waren nur noch vier Drachen übrig. Und meiner flog immer noch. Es war, als könnte ich gar keine falsche Bewegung machen, als bliese jede Windbö nur zu meinen Gunsten. Ich hatte noch nie das Gefühl gehabt, derart die Kontrolle über etwas zu besitzen, war noch nie so glücklich gewesen. Es war ein berauschendes Gefühl. Ich wagte nicht, zum Dach hinaufzublicken. Wagte nicht, meine Augen vom Himmel zu nehmen. Ich musste mich konzentrieren, geschickt vorgehen. Nach einer weiteren Viertelstunde war das, was am Morgen noch wie ein lächerlicher Traum ausgesehen hatte, Wirklichkeit geworden: Da waren nur noch ich und der andere Kerl. Der mit dem blauen Drachen.

Die Luft bebte vor Spannung wie die Glasschnur, die ich mit meinen blutigen Händen hielt. Die Leute stampften mit den Füßen, klatschten in die Hände, pfiffen und riefen: »Boboresh! Boboresh!« — Schneide ihn! Schneide ihn! Ich fragte mich, ob Babas Stimme auch darunter war. Musik dröhnte. Der Duft von gedünsteten mantu und ausgebackenem pakora zog von Dächern und geöffneten Türen herüber.

Doch alles, was ich hörte — was ich mich zu hören zwang —, war das Pochen des Blutes in meinem Kopf. Alles, was ich sah, war der blaue Drachen. Alles, was ich roch, war Sieg. Rettung. Erlösung. Wenn Baba sich irrte und es wirklich einen Gott gab, wie in der Schule behauptet wurde, dann würde Er mich gewinnen lassen. Ich hatte keine Ahnung, um was der andere Kerl spielte, vielleicht ging es ihm ja nur um Angeberei. Aber das hier war meine einzige Chance, zu jemandem zu werden, den die Leute wirklich ansahen und nicht bloß wahrnahmen, dem sie tatsächlich zuhörten und nicht bloß seiner Stimme lauschten. Wenn es Gott wirklich gab, würde Er die Winde lenken, sie zu meinem Vorteil wehen lassen, damit ich mich mit einem einzigen Reißen meiner Schnur von all meinem Schmerz, all meiner Sehnsucht losschneiden konnte. Ich hatte zu lange durchgehalten, war zu weit gekommen. Und plötzlich, einfach so, wurde aus der Hoffnung Gewissheit. Ich würde gewinnen. Es war nur eine Frage der Zeit.

Und es geschah schneller als erwartet. Eine Windbö hob meinen Drachen, und ich nutzte den Vorteil. Gab ihm Schnur, ließ ihn steigen, brachte ihn mit einem Schlenker über dem blauen in Stellung. Und hielt diese Position. Der Besitzer des blauen Drachens wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte. Er versuchte verzweifelt, sich aus der Klemme herauszumanövrieren, aber ich gab nicht nach. Ich hielt meine Position. Die Menge spürte, dass das Ende bevorstand. Der Chor der »Schneide ihn! Schneide ihn!« — Rufe wurde lauter, wie bei den Römern, wenn sie ihre Gladiatoren zum Töten anfeuerten.

»Du hast es beinahe geschafft, Amir Aga! Beinah geschafft!«, keuchte Hassan.

Dann kam der Moment. Ich schloss die Augen und lockerte den Griff um die Schnur. Sie schnitt mir wieder in die Finger, als der Wind daran zerrte. Und dann… Ich musste gar nicht erst das Gebrüll der Menge hören, um es zu wissen. Ich musste es auch nicht sehen. Hassan schrie, und er schlang mir den Arm um den Hals.

»Bravo! Bravo, Amir Aga!«

Ich öffnete die Augen, sah, wie sich der blaue Drache wild drehte, wie ein Rad, das sich von einem fahrenden Auto gelöst hat. Ich blinzelte, versuchte, etwas zu sagen. Kein Laut kam heraus. Plötzlich schwebte ich, blickte von oben auf mich selbst herab. Schwarzer Ledermantel, roter Schal, ausgebleichte Jeans. Ein magerer Junge, etwas bleich und ein bisschen zu klein geraten für seine zwölf Jahre. Er hatte schmale Schultern und die Andeutung dunkler Ringe unter den hellbraunen Augen. Der Wind fuhr durch sein nussbraunes Haar. Er blickte zu mir auf, und wir lächelten einander zu.

Dann schrie ich, und alles war Farbe und Klang, alles lebendig und gut. Ich schlang meinen freien Arm um Hassan, und wir sprangen auf und ab, lachten und wein ten zugleich.

»Du hast gewonnen, Amir Aga! Du hast gewonnen!«

»Wir haben gewonnen! Wir beide!«, war alles, was ich sagen konnte. Das hier geschah nicht wirklich. Im nächsten Moment würde ich blinzelnd die Augen öffnen und aus diesem wundervollen Traum erwachen, aus dem Bett klettern und in die Küche hinuntermarschieren, um mich allein an den Frühstückstisch zu setzen, nur Hassan um mich herum, mit dem ich reden konnte. Mich anziehen. Auf Baba warten. Aufgeben. In mein altes Leben zurückkehren. Dann erblickte ich Baba auf unserem Dach. Er stand ganz am Rand, reckte beide Fäuste in die Höhe. Schrie. Klatschte. Und dieser Moment, in dem ich Baba dort oben auf dem Dach sah, endlich einmal von Stolz auf seinen Sohn erfüllt, war für mich der größte Moment meiner bisherigen zwölf Lebensjahre.

Aber jetzt machte er etwas anderes, begann auf eine dringliche Weise zu gestikulieren. Ich begriff. »Hassan, wir…«

»Ich weiß«, unterbrach der mich und löste unsere Um armung. »Inshallah, wir werden später feiern. Jetzt werde ich diesen blauen Drachen für dich erlaufen«, sagte er. Er ließ die Spule fallen und rannte davon. Der Saum seines grünen chapan schleifte hinter ihm durch den Schnee.

»Hassan!«, rief ich. »Bring ihn mir!«

Er war bereits fast um die Straßenecke gebogen. Seine Gummistiefel ließen den Schnee in die Höhe spritzen. Er blieb abrupt stehen, drehte sich um und formte mit den Händen einen Trichter um seinen Mund. »Für dich — tausendmal!«, rief er. Dann schenkte er mir sein Hassan-Lächeln und verschwand um die Ecke. Das nächste Mal sah ich ihn sechsundzwanzig Jahre später auf einem verblassten Polaroidfoto so unerschrocken lächeln.

Ich begann die Schnur meines Drachens einzuholen, als die ersten Leute auf mich zueilten, um mir zu gratulieren. Ich schüttelte Hände und bedankte mich. Die jüngeren Kinder blickten mich mit einem ehrfurchtsvollen Glitzern in den Augen an. Ich war ein Held. Hände klopften mir auf den Rücken, zausten mein Haar. Ich zog an der Schnur und erwiderte jedes Lächeln, aber in Gedanken war ich bei dem blauen Drachen.

Endlich hielt ich meinen eigenen Drachen in der Hand. Ich wickelte die lose Schnur, die sich zu meinen Füßen angesammelt hatte, um die Spule, schüttelte noch ein paar Hände und trabte nach Hause. Als ich an dem schmiedeeisernen Tor ankam, wartete Ali auf der anderen Seite. Er streckte die Hand durch die Gitterstäbe. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er.

Ich reichte ihm den Drachen und die Spule, schüttelte seine Hand. »Tashakor, Ali jan.«

»Ich habe die ganze Zeit für euch gebetet.«

»Dann bete weiter. Wir sind noch nicht fertig.«

Ich eilte auf die Straße zurück. Ich fragte Ali nicht nach Baba. Ich wollte ihn noch nicht sehen. Ich hatte den Plan bereits fertig im Kopf. Ich würde mich großartig in Szene setzen: der Held, der mit der wertvollen Trophäe in den blutigen Händen durch die Tür tritt. Köpfe würden sich drehen und Blicke einander begegnen. Rostem und Suhrab, die sich abschätzend betrachten. Ein dramatischer Moment der Stille. Dann würde der alte Krieger auf den jungen zugehen, ihn umarmen, ihn anerkennen. Rehabilitation. Rettung. Erlösung. Und dann? Nun… von nun an lebten sie natürlich glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Was sonst?