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Die Straßen im Wazir-Akbar-Khan-Viertel waren nummeriert und rasterförmig angeordnet wie ein Gitter. Es war damals noch ein neues Viertel, das sich erst im Aufbau befand, und in jeder Straße gab es leere Grundstücke und halb fertige Häuser zwischen von zweieinhalb Meter hohen Mauern umgebenen Wohnkomplexen. Auf der Suche nach Hassan rannte ich jede Straßehinauf und hinunter. Überall waren die Menschen damit beschäftigt, Stühle zusammenzuklappen und nach einem langen Tag des Feierns Essensreste und Utensilien einzupacken. Einige, die immer noch auf ihren Dächern saßen, riefen mir Glückwünsche zu.

Vier Straßen südlich der unseren erblickte ich Omar, den Sohn eines Ingenieurs, der zu Babas Freunden gehörte. Er spielte mit seinem Bruder auf dem Rasen vor dem Haus Fußball. Omar war eigentlich ein prima Kerl. Wir waren eine Zeit lang in dieselbe Klasse gegangen, und da hatte er mir einmal einen Füllfederhalter geschenkt — die Sorte, die man mit einer Patrone füllt.

»Ich habe gehört, du hast gewonnen, Amir«, sagte er. »Glückwunsch.«

»Danke. Hast du Hassan gesehen?«

»Euren Hazara?«

Ich nickte. Omar spielte den Ball mit dem Kopf seinem Bruder zu. »Wie man hört, soll er ja ein ganz toller Drachenläufer sein.« Sein Bruder spielte ihm den Ball mit dem Kopf zurück. Omar fing ihn und warf ihn ein paarmal in die Höhe. »Wobei ich mich wirklich frage, wie er das schafft. Also, wie kann er mit diesen kleinen Schlitzaugen eigentlich überhaupt irgendwas sehen?«

Sein Bruder lachte, ein kurzes, schallendes Lachen und bat um den Ball. Omar ignorierte ihn.

»Hast du ihn gesehen?«

Omar deutete mit dem Daumen über die Schulter, Richtung Südwesten. »Ich habe vor einer Weile gesehen, wie er Richtung Basar gelaufen ist.«

»Danke.« Ich flitzte davon.

Als ich am Marktplatz ankam, war die Sonne schon fast hinter den Bergen versunken, und die Dämmerung hatte den Himmel rosa und purpurn gefärbt. Einige Häuserblocks entfernt sang der Mullah den azan — den Gebetsaufruf — von der Haji-Yaghoub-Moschee und forderte die Gläubigen auf, ihre Teppich auszurollen und die Köpfe zum Gebet gen Westen zu neigen. Hassan verpasste niemals eins der täglichen fünf Gebete. Selbst wenn wir draußen spielten, entschuldigte er sich, holte Wasser aus dem Brunnen im Garten, wusch sich und verschwand in der Hütte. Einige Minuten später kam er dann lächelnd wieder heraus und fand mich mit dem Rücken an die Mauer oder an einen Baum gelehnt vor. Heute Abend allerdings würde er das Gebet verpassen — wegen mir.

Der Basar leerte sich rasch, die Händler beendeten ihre Feilscherei für den Tag. Ich trottete durch den Dreck zwischen den Reihen von dicht an dicht stehenden Bu den, wo man an der einen frisch geschlachtete Fasane und an der nächsten Taschenrechner kaufen konnte. Ich suchte mir einen Weg durch die spärlicher werdende Menge, die lahmen Bettler, die ihre zerfetzten Lumpen in Schichten übereinander trugen, die Händler, die ihre Teppiche schulterten, die Stoffhändler und die Metzger, die ihre Geschäfte für den Tag erledigt hatten. Keine Spur von Hassan.

Ich machte Halt an einem Stand mit Trockenfrüchten und beschrieb Hassan einem alten Händler mit einem taubenblauen Turban, der sein Maultier mit Kisten voller Pinienkernen und Rosinen belud.

Er verharrte und musterte mich eingehend, ehe er antwortete. »Was macht ein Junge wie du hier um diese Tageszeit und sucht nach einem Hazara-Jungen?« Sein Blick verweilte bewundernd auf meinem Ledermantel und meiner Jeans — Cowboyhosen nannten wir sie damals. Es war ein Zeichen von Reichtum, wenn man in Afghanistan irgendetwas Amerikanisches trug, besonders wenn es nicht aus zweiter Hand stammte.

»Ich muss ihn finden, Aga.«

»Was interessiert er dich denn?«, fragte er. Ich verstand den Sinn seiner Frage nicht, rief mir aber ins Gedächtnis, dass ihn Ungeduld nicht dazu bringen würde, es mir schneller zu verraten.

»Er ist der Sohn unseres Dienstboten«, antwortete ich.

Der alte Mann zog eine grau melierte Augenbraue in die Höhe. »Ist er das? Ein glücklicher Hazara, der einen so besorgten Herrn hat. Sein Vater sollte auf die Knie fallen und mit den Wimpern den Staub von deinen Füßen wischen.«

»Wirst du es mir nun sagen, oder nicht?«

Er legte einen Arm auf den Rücken des Maultiers und deutete mit dem anderen nach Süden. »Ich glaube, ich habe den Jungen, den du beschrieben hast, in diese Richtung laufen sehen. Er hatte einen Drachen in der Hand. Einen blauen.«

»Wirklich?«, sagte ich. Für dich — tausendmal!, hatte er versprochen. Der gute alte Hassan. Auf den war Ver lass. Er hatte sein Versprechen gehalten und den letzten Drachen für mich erlaufen.

»Natürlich werden sie ihn inzwischen erwischt haben«, sagte der alte Händler ächzend und lud eine weitere Kiste auf den Rücken des Maultiers.

»Wer denn?«

»Die anderen Jungen«, erwiderte er. »Die hinter ihm her waren. Sie waren gekleidet wie du.« Er blickte zum Himmel hinauf und seufzte. »Und jetzt lauf nur, du bist noch schuld, wenn ich zu spät zum namaz komme.«

Aber ich rannte bereits die Gasse entlang.

In den nächsten Minuten suchte ich vergeblich den Basar und die Umgebung ab. Vielleicht hatte sich der alte Händler ja getäuscht. Aber er hatte den blauen Drachen gesehen. Der Gedanke daran, diesen Drachen in die Hände zu bekommen… Ich blickte in jede Gasse, in jeden Laden. Keine Spur von Hassan.

Ich hegte schon die Befürchtung, dass es dunkel sein würde, bevor ich Hassan fand, als ich vor mir Stimmen vernahm. Ich hatte eine abgelegene, matschige Straße erreicht. Sie verlief quer zum Ende der Hauptstraße, die den Basar in zwei Hälften teilte. Ich bog auf den zerfurchten Weg ein und folgte den Stimmen. Meine Stiefel versanken bei jedem Schritt im Matsch, und mein Atem stieg in weißen Wolken vor meinem Mund auf. Der schmale Weg verlief auf der einen Seite parallel zu einer verschneiten Schlucht, durch die im Frühjahr wohl ein Bach geflossen sein mochte. Auf der anderen Seite stand eine Reihe von schneebeladenen Zypressen, unterbro chen von einfachen, flachen Lehmhäusern — in den meisten Fällen kaum mehr als Hütten —, zwischen denen sich hin und wieder schmale Gassen auftaten.

Ich vernahm die Stimmen wieder, dieses Mal lauter. Sie kamen aus einer dieser Gassen. Ich schlich mich bis dorthin. Hielt den Atem an. Spähte um die Ecke.

Es war eine Sackgasse, an deren Ende Hassan stand: die Hände zu Fäusten geballt, die Beine leicht gespreizt. Hinter ihm, auf einem Haufen Schrott und Schutt, lag der blaue Drache. Mein Schlüssel zu Babas Herz.

Drei Jungen versperrten Hassan den einzigen Weg aus der Gasse; dieselben drei, vor denen uns Hassan damals auf dem Hügel, einen Tag nach Daoud Khans Staatsstreich, mit seiner Schleuder gerettet hatte. Wali stand auf einer Seite, Kamal auf der anderen und Assef in der Mitte. Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte und mir etwas Kaltes den Rücken hinaufkroch. Assef machte einen entspannten, selbstsicheren Eindruck. Er spielte mit seinem Schlagring herum. Die beiden anderen Jungen traten nervös von einem Fuß auf den anderen, blickten von Assef zu Hassan, als hätten sie ein wildes Tier in die Enge getrieben, das nur Assef zu zähmen in der Lage war.

»Wo ist denn deine Schleuder, Hazara?«, fragte Assef und drehte den Schlagring in seiner Hand. »Was hast du damals noch zu mir gesagt? ›Sie werden dich Einäugiger Assef nennen müssen.‹ Das ist gut. Einäugiger Assef. Das war wirklich clever. Wirklich clever. Aber es ist immer leichter, clever zu sein, wenn man eine geladene Waffe in der Hand hält, nicht wahr, Flachnase?«

Ich bemerkte, dass ich immer noch nicht ausgeatmet hatte. Ich tat es nun langsam und ganz leise. Ich war wie gelähmt. Ich sah zu, wie sie auf den Jungen zugingen, mit dem ich aufgewachsen war, dessen Gesicht zu meinen ersten Erinnerungen gehörte.