Выбрать главу

»Dein Vater wird es doch gar nicht erfahren«, sagte Assef. »Und was kann schon sündhaft daran sein, einem respektlosen Esel eine Lektion zu erteilen?«

»Ich weiß nicht so recht«, murmelte Wali.

»Wie du willst, was ist mir dir, Kamal?«

»Ich… na ja…«

»Das ist doch bloß ein Hazara«, sagte Assef. Aber Kamal wich seinem Blick weiter aus.

»Na schön«, bellte Assef. »Ich verlange nichts weiter von euch Schwächlingen, als ihn festzuhalten. Schafft ihr wenigstens das?«

Wali und Kamal nickten. Sie wirkten erleichtert.

Assef kniete sich hinter Hassan, packte dessen Hüften mit den Händen und hob so sein nacktes Hinterteil. Er ließ eine Hand auf Hassans Rücken liegen und öffnete mit der anderen seine Gürtelschnalle. Dann machte er den Reißverschluss seiner Jeans auf. Zog seine Unterhose herunter. Brachte sich hinter Hassan in Stellung. Hassan wehrte sich nicht. Gab keinen Laut von sich. Er bewegte nur einmal kurz den Kopf, und ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht. Sah die Resignation darin. Ich hatte diesen Ausdruck schon einmal gesehen. In den Augen des Lamms.

Morgen ist der zehnte Tag des Dhul-Hijjah, des letzten Monats des muslimischen Kalenders; er ist zugleich der erste der drei Tage des Eid Al-Adha oder Eid-e-Qorban, wie es die Afghanen nennen — ein Tag, der der Erinnerung an den Propheten Abraham dient, der Gott einmal beinahe seinen eigenen Sohn geopfert hätte. Baba hat das Schaf dieses Jahr wieder einmal selbst ausgesucht, es ist schneeweiß, und seine schwarzen Ohren sind nach vorn geknickt.

Wir stehen alle im Garten: Hassan, Ali, Baba und ich. Der Mullah trägt das Gebet vor, streicht sich über den Bart. Baba murmelt in sich hinein. »Jetzt mach schon.« Das endlose Beten, das Ritual, um das Fleisch halal, rein, zu machen, scheint ihn aufzuregen. Baba macht sich lustig über die Geschichte, die hinter diesem Eid steht, wie er sich über alles Religiöse lustig macht. Aber er respektiert die Tradition des Eid-e-Qorban. Der Brauch sieht vor, das Fleisch zu dritteln: ein Teil für die Familie, einer für Freunde und einer für die Armen. Baba gibt jedes Jahr alles den Armen. »Die Reichen sind schon fett genug«, sagt er.

Der Mullah beendet das Gebet. Ameen. Er greift nach dem Küchenmesser mit der langen Klinge. Der Brauch fordert, dass das Schaf die Klinge nicht sehen darf. Ali füttert das Tier mit einem Zuckerstückchen — ein weiterer Brauch, den Tod zu versüßen. Das Schaf schlägt aus, aber nicht besonders heftig. Der Mullah packt es unter dem Kiefer und hält ihm die Klinge an den Hals. Eine Sekunde lang, bevor er ihm die Kehle mit einer einzigen, fachmännischen Bewegung durchschneidet, sehe ich die Augen des Schafs. Es liegt ein Ausdruck darin, der mich noch wochenlang in meinen Träumen verfolgen wird. Ich weiß nicht, warum ich mir dieses jährliche Ritual in unserem Garten anschaue: Meine Albträume halten noch lange, nachdem die Blutflecken im Gras verblasst sind, an. Absurderweise stelle ich mir vor, dass das Tier begreift, was vor sich geht. Ich stelle mir vor, dass es erkennt, dass sein nahe bevorstehender Tod einem höheren Zweck dient. Und genau dieser Ausdruck ist es…

Ich schaute weg, wandte mich von der Gasse ab. Etwas Warmes lief mir über das Handgelenk. Ich blinzelte, bemerkte, dass ich mir immer noch in die Faust biss, und das fest genug, um die Knöchel zum Bluten zu bringen. Ich bemerkte noch etwas anderes. Ich weinte. Hinter der Ecke konnte ich Assefs schnelles, rhythmisches Stöhnen hören.

Ich hatte noch eine letzte Chance, eine Entscheidung zu treffen. Eine letzte Gelegenheit, um zu entscheiden, was für ein Mensch ich werden würde. Ich konnte in die Gasse treten und für Hassan einstehen — wie er all die unzähligen Male in der Vergangenheit für mich eingestanden war — und das in Kauf nehmen, was mit mir geschehen würde. Oder ich konnte davonlaufen.

Am Ende lief ich davon.

Ich lief davon, weil ich ein Feigling war. Ich fürchtete mich vor Assef und dem, was er mir antun würde. Ich hatte Angst davor, dass er mir wehtat. Das versuchte ich mir einzureden, als ich der Gasse und Hassan den Rücken kehrte. Ich redete es mir so lange ein, bis ich davon überzeugt war. Ich wollte geradezu ein Feigling sein, weil die Alternative, der wahre Grund, warum ich davonlief, Assef Recht gab: Auf dieser Welt gab es nichts umsonst. Vielleicht war Hassan der Preis, den ich zu zahlen hatte, das Lamm, das ich opfern musste, um Baba zu gewinnen. War es ein angemessener Preis? Die Antwort drang in mein Bewusstsein, ehe ich es verhindern konnte: Er ist ja nur ein Hazara, oder?

Ich rannte denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Rannte zurück zu dem beinahe verlassen daliegenden Basar. Ich taumelte auf eine Bude zu und lehnte mich an die mit einem Vorhängeschloss versehenen Schwingtüren. Stand keuchend und schwitzend da und wünschte mir, dass die Dinge einen anderen Ausgang genommen hätten.

Ungefähr fünfzehn Minuten später vernahm ich Stimmen und schnelle Schritte. Ich duckte mich hinter die Bude und sah, wie Assef und die anderen beiden vorbeirannten. Sie lachten, als sie die verlassene Straße entlangliefen. Ich zwang mich, weitere zehn Minuten zu warten. Dann ging ich zu dem zerfurchten Weg zurück, der entlang der verschneiten Schlucht verlief. Ich blinzelte in dem dämmerigen Licht und entdeckte Hassan, der langsam auf mich zukam. Wir trafen uns an einer nackten Birke am Rande der Schlucht.

Er hielt den blauen Drachen in den Händen; das war das Erste, was ich sah. Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte nicht nach irgendwelchen Rissen Ausschau gehalten. Sein chapan war vorn voller Flecken und sein Hemd unterhalb des Kragens zerrissen. Er blieb stehen. Schwankte, als würde er jeden Moment umfallen. Dann fing er sich wieder. Reichte mir den Drachen.

»Wo bist du denn nur gewesen? Ich habe nach dir gesucht«, sagte ich. Es kam mir vor, als würde ich auf einem Stein herumkauen, als ich die Worte aussprach.

Hassan fuhr sich mit einem Ärmel über das Gesicht, wischte Rotz und Tränen weg. Ich wartete darauf, dass er etwas sagen würde, doch wir standen einfach nur stumm da im schwindenden Licht. Ich war dankbar für die frühen Schatten des Abends, die auf Hassans Gesicht fielen und das meine verbargen. Ich war froh, dass ich seinen Blick nicht erwidern musste. Ob er Bescheid wusste? Und wenn ja, was würde ich sehen, wenn ich tatsächlich in seine Augen blickte? Vorwürfe? Entrüstung? Oder — was Gott verhüten mochte, weil ich es am meisten fürchtete — womöglich arglose Ergebenheit? Denn das hätte ich am wenigsten von allem ertragen können.

Er wollte etwas sagen, doch die Stimme gehorchte ihm nicht. Er schloss den Mund, öffnete ihn wieder und schloss ihn erneut. Trat einen Schritt zurück. Wischte sich noch einmal über das Gesicht. Das war der einzige Moment, in dem wir beinahe über das geredet hätten, was in jener Gasse geschehen war. Ich fürchtete, er könne möglicherweise in Tränen ausbrechen, aber zu meiner Erleichterung tat er es nicht, und ich gab vor, das Versagen seiner Stimme gar nicht bemerkt zu haben. Genauso wie ich vorgab, die dunklen Spuren auf seinem Hosenboden nicht zu sehen. Oder die winzigen Tropfen, die ihm zwischen den Beinen herabfielen und den Schnee mit schwarzen Flecken tupften.

»Aga Sahib wird sich schon Sorgen machen«, war alles, was ich sagte. Er wandte sich von mir ab und hum pelte davon.

Es geschah genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich öffnete die Tür zu dem verrauchten Arbeitszimmer und trat ein. Baba und Rahim Khan tranken Tee und lauschten den knisternden und knackenden Nachrichten im Radio. Ihre Köpfe drehten sich. Ein Lächeln erschien auf den Lippen meines Vaters. Er breitete die kräftigen haarigen Arme aus. Ich legte den Drachen hin und trat in diese Umarmung. Ich vergrub mein Gesicht an der Wärme seiner Brust und weinte. Baba drückte mich ganz fest an sich, schaukelte mich hin und her. In dieser Umarmung vergaß ich, was ich getan hatte. Und das war gut.