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Ich sah Hassan beinahe eine ganze Woche lang nicht. Wenn ich erwachte, fand ich das Brot getoastet, den Tee aufgegossen und das Ei fertig gekocht auf dem Küchentisch vor. Meine Kleidung für den Tag lag gebügelt und gefaltet auf dem Rohrstuhl in der Halle, wo Hassan für gewöhnlich das Bügeln erledigte. Meistens hatte er gewartet, bis ich am Frühstückstisch saß, bevor er damit begann — auf diese Weise konnten wir uns unterhalten. Oder er übertönte das Zischen des Eisens mit seinem Gesang und gab alte Hazara-Lieder über Tulpenfelder zum Besten. Doch jetzt begrüßten mich lediglich meine gefalteten Kleider. Und ein Frühstück, das ich nur noch selten ganz aufaß.

An einem bedeckten Morgen, als ich gerade das gekochte Ei auf meinem Teller herumschob, trat Ali mit einem Arm voll Holzscheite in die Küche. Ich fragte ihn, wo Hassan steckte.

»Der hat sich wieder schlafen gelegt«, sagte er, kniete sich vor den Ofen und zog die kleine viereckige Tür auf.

Ob er wohl nachher mit mir spielen könne, wollte ich wissen.

Ali verharrte mit einem Scheit in der Hand. Ein besorgter Ausdruck deutete sich auf seinem Gesicht an. »In letzter Zeit scheint er nur noch schlafen zu wollen. Er erledigt seine Aufgaben — darauf achte ich —, aber dann möchte er am liebsten nur noch unter seine Decke kriechen. Darf ich etwas fragen?«

»Wenn es sein muss.«

»Als er nach dem Drachenturnier nach Hause gekommen ist, da hat er ein wenig geblutet, und sein Hemd war zerrissen. Ich habe ihn gefragt, was geschehen ist, und er hat mir geantwortet, gar nichts, er sei bloß wegen des Drachens in eine kleine Rauferei mit ein paar Kindern geraten.«

Ich antwortete nichts darauf. Schob nur weiter das Ei auf meinem Teller herum.

»Ist ihm etwas zugestoßen, Amir Aga? Etwas, von dem er mir nichts sagt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen?«

»Du würdest es mir doch sagen, oder? Inschallah, du würdest mir sagen, wenn etwas geschehen wäre?«

»Wie ich schon sagte, woher soll ich wissen, was mit ihm los ist?«, fuhr ich ihn an. »Vielleicht ist er ja krank. Die Leute werden doch ständig krank, Ali. So, wirst du jetzt wohl endlich den Ofen anzünden, oder soll ich etwa erfrieren?«

An jenem Abend fragte ich Baba, ob wir am Freitag nach Jalalabad fahren könnten. Er schaukelte in dem ledernen Drehstuhl hin und her, der hinter seinem Schreibtisch stand, und las Zeitung. Er legte die Zeitung hin und nahm die Lesebrille ab, die ich so hasste — Baba war nicht alt, ganz und gar nicht, und er hatte noch so viele Jahre vor sich, warum also musste er diese dumme Brille tragen?

»Warum nicht!«, sagte er. In letzter Zeit schien mir Baba nie mehr etwas abschlagen zu wollen. Zwei Abende zuvor hatte er mich sogar gefragt, ob ich Lust hätte, mir El Cid mit Charlton Heston im Aryana-Kino anzusehen. »Möchtest du Hassan fragen, ob er Lust hat, nach Jalalabad mitzukommen?«

Warum bloß musste Baba alles verderben? »Er ist mareez«, sagte ich. Fühlt sich nicht wohl.

»Wirklich?« Baba hörte auf, in seinem Stuhl zu schaukeln. »Was ist denn mit ihm los?«

Ich zuckte mit den Schultern und sank in das Sofa am Kamin. »Er hat wohl einen Schnupfen. Ali sagt, er schläft sich gesund.«

»Ich habe Hassan in den letzten Tagen selten gesehen«, sagte Baba. »Es ist also wirklich nichts weiter als ein Schnupfen?« Ich konnte nicht anders, die Art und Weise, wie sich seine Stirn vor Sorge furchte, war mir verhasst.

»Ja, bloß ein Schnupfen. Werden wir denn jetzt am Freitag fahren, Baba?«

»Ja, ja«, sagte er und schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück. »Tut mir Leid wegen Hassan. Ich dachte, es hätte dir mehr Spaß gemacht, wenn er mitkommt.«

»Ach, wir zwei können doch auch Spaß zusammen haben«, erwiderte ich. Baba lächelte. Zwinkerte mir zu. »Zieh dich warm an«, sagte er.

Es sollten eigentlich nur wir beide sein — so hätte ich es gern gehabt —, aber bis Mittwochabend hatte Baba es geschafft, noch zwei Dutzend weitere Leute zu der Fahrt einzuladen. Er rief seinen Cousin Homayoun an — genau genommen ein Cousin zweiten Grades — und erwähnte, dass er am Freitag nach Jalalabad fahren wolle, und Homayoun, der in Frankreich Maschinenbau studiert und ein Haus in Jalalabad hatte, sagte, er würde gern alle dorthin einladen, er selbst wolle die Kinder und seine beiden Frauen mitnehmen, und seine Cousine Shafiqa und ihre Familie seien gerade aus Herat zu Besuch da, die hätten vielleicht auch Lust mitzukommen, und da sie in Kabul bei Cousin Nader wohnten, müsse man dessen Familie ebenfalls einladen, auch wenn Homayoun und Nader im Augenblick miteinander im Streit lagen, und wenn Nader eingeladen wurde, musste man selbstverständlich seinen Bruder Faruq dazubitten, sonst wäre der gekränkt und würde sie im nächsten Monat vielleicht nicht zur Hochzeit seiner Tochter einladen…

Wir füllten drei Kastenwagen. Ich fuhr mit Baba, Rahim Khan und Kaka Homayoun — Baba hatte mir schon früh beigebracht, jeden älteren Mann Kaka, Onkel, zu nennen und jede ältere Frau Khala, Tante. Kaka Homayouns zwei Ehefrauen fuhren auch mit uns — die verkniffen dreinblickende Ältere mit den Warzen an den Händen und die Jüngere, die immer nach Parfüm roch und mit geschlossenen Augen tanzte —, genau wie Kaka Homayouns Zwillingstöchter. Ich saß in der hinteren Reihe zwischen den beiden siebenjährigen Zwillingen eingequetscht, die immer wieder über meinen Schoß hinweglangten, um einander einen Klaps zu versetzen, und mir war furchtbar schlecht vom Autofahren und ich fühlte mich schwindelig. Um nach Jalalabad zu gelangen, musste man eine Zweistundenfahrt über Bergstraßen zurücklegen, die sich entlang steiler Abhänge schlängelten, und es drehte mir bei jeder Haarnadelkurve den Magen um. Alle im Wagen redeten, redeten laut und meistens zur selben Zeit, man konnte es fast schon als Schreien bezeichnen; das war nun einmal die Art, wie sich Afghanen unterhielten. Ich fragte einen der Zwillinge — Fazila oder Karima, ich konnte sie nie auseinander halten —, ob sie mir ihren Fensterplatz überlassen würde, wegen meiner Übelkeit, damit ich ein wenig frische Luft bekam. Sie streckte mir bloß die Zunge heraus und sagte Nein. Daraufhin erklärte ich ihr, dass sie mich dann nicht dafür verantwortlich machen könne, wenn ich auf ihr schönes neues Kleid kotzte. Eine Minute später lehnte ich mich aus dem Autofenster. Ich sah, wie die löcherige Straße anstieg und abfiel, wie sie sich den Berg hinaufschlängelte, zählte die bunten Lastwagen, die voll gepackt mit darauf kauernden Männern vorbeirumpelten. Ich versuchte die Augen zu schließen und mir den Wind über die Wangen streichen zu lassen, öffnete den Mund, um die frische Luft einzusaugen. Ich fühlte mich immer noch nicht besser. Ein Finger bohrte sich in meine Seite. Es war Fazila-Karima.

»Was ist?«, fragte ich.

»Ich habe gerade allen von dem Turnier erzählt«, sagte Baba vorn am Steuer. Kaka Homayoun und seine Frauen lächelten mich von der mittleren Sitzreihe aus an.

»An dem Tag müssen gut und gern hundert Drachen am Himmel gewesen sein, nicht wahr, Amir?«, fragte Baba.

»Kann sein«, murmelte ich.

»Hundert Drachen, Homayoun jan. Kein laaf. Und der einzige, der am Ende des Tages noch flog, war der von Amir. Er hat den vorletzten geschnitten, und der liegt zu Hause, ein wunderschöner blauer Drachen. Hassan und Amir haben ihn zusammen erlaufen.«