»Meinen Glückwunsch«, sagte Kaka Homayoun. Seine erste Frau, die mit den Warzen, klatschte in die Hände. »Wah wah, Amir jan, wir sind alle so stolz auf dich!«, sagte sie. Die jüngere Frau stimmte mit ein. Und dann klatschten sie alle, lobten mich mit lauten Stimmen, erklärten mir, wie stolz ich sie alle durch meinen Sieg gemacht hatte. Nur Rahim Khan, der auf dem Beifahrersitz neben Baba saß, schwieg und sah mich mit einem seltsamen Blick an.
»Bitte halt an, Baba«, sagte ich.
»Was?«
»Muss mich übergeben«, murmelte ich, lehnte mich über den Sitz und presste mich gegen Kaka Homayouns Tochter.
Fazila-Karima verzog das Gesicht. »Halt an, Kaka! Sein Gesicht ist ganz gelb! Ich will nicht, dass er mir auf mein neues Kleid kotzt!«, kreischte sie.
Baba lenkte den Wagen an den Rand, aber ich schaffte es nicht mehr. Ein paar Minuten später saß ich auf einem Stein am Straßenrand, wahrend sie den Wagen lüfteten. Baba rauchte, neben ihm Kaka Homayoun, der Fazila-Karima erklärte, dass sie aufhören solle zu weinen; er werde ihr in Jalalabad ein neues Kleid kaufen. Ich schloss die Augen und wandte mein Gesicht der Sonne zu. Kleine Formen erschienen auf der Innenseite meiner Lider, wie Hände, die Schattenspiele auf einer Wand veranstalteten. Die Formen bewegten sich, schlängelten sich, flossen zusammen und formten ein einziges Bild: Hassans Cordhose, die achtlos hingeworfen auf einem Haufen alter Ziegelsteine in einer Gasse lag.
Kaka Homayouns weißes zweistöckiges Haus in Jalalabad hatte einen Balkon, von dem aus man auf einen großen, von Mauern umgebenen Garten mit Apfel- und Persimonenbäumen blickte. Es gab dort Hecken, die der Gärtner im Sommer zu Tierfiguren schnitt, und einen Swimmingpool mit smaragdgrünen Fliesen. Ich saß am Rande des Pools, der bis auf eine matschige Schneeschicht unten am Boden leer war, und ließ die Füße baumeln. Kaka Homayouns Kinder spielten am anderen Finde des Gartens Verstecken. Die Frauen kochten, und ich konnte schon die gebratenen Zwiebeln riechen, konnte das Pfft Pfft des Druckkochtopfes hören, dazu Musik und Lachen. Baba, Rahim Khan, Kaka Homayoun und Kaka Nader saßen auf dem Balkon und rauchten. Kaka Homayoun erzählte ihnen, dass er den Projektor mitgebracht habe, um ihnen die Frankreich-Dias zu zeigen. Zehn Jahre waren seit seiner Rückkehr aus Paris vergangen, und er zeigte immer noch diese dämlichen Dias.
Ich war ungerecht. Baba und ich waren endlich Freunde. Vor ein paar Tagen waren wir im Zoo gewesen, hatten uns Marjan, den Löwen, angesehen, und ich hatte einen Kiesel nach dem Bären geworfen, als niemand hinschaute. Hinterher waren wir in Dadkhodas Kebab-Haus gegangen, das auf der anderen Seite des Park-Kinos lag, und hatten Lamm-Kebab mit frisch gebackenem naan aus dem tandoor-Ofen gegessen. Baba hatte mir Geschichten von seinen Reisen nach Indien und Russland erzählt, von den Leuten, die er dort getroffen hatte, wie das Ehepaar ohne Arme und Beine aus Bombay, das siebenundvierzig Jahre verheiratet war und elf Kinder großgezogen hatte. Eigentlich hätte es Spaß machen sollen, einen Tag auf diese Weise mit Baba zu verbringen, seinen Geschichten zu lauschen. Ländlich war es so, wie ich es mir all die Jahre gewünscht hatte. Bloß dass ich mir jetzt, wo es so war, leer vorkam wie der vernachlässigte Swimmingpool, in den ich meine Beine baumeln ließ.
Die Ehefrauen und Töchter servierten bei Sonnenuntergang Reis, kofta und Hühner-qurma. Wir speisten auf traditionelle Weise, saßen auf Kissen, die im Raum verteilt lagen, hatten das Tischtuch auf dem Boden ausgebreitet und aßen in Gruppen von vier oder fünf mit den Händen von einfachen Tellern. Ich war nicht hungrig, setzte mich aber trotzdem hin, um mit Baba, Kaka Faruq und Kaka Homayouns beiden Jungen zu essen. Baba, der vor dem Essen ein paar Gläser Scotch getrunken hatte, schwadronierte immer noch über das Drachenturnier, wie ich länger durchgehalten hatte als alle anderen, wie ich mit dem letzten Drachen nach Hause gekommen war. Seine dröhnende Stimme beherrschte den Raum. Leute hoben die Köpfe von ihren Tellern, riefen mir Glückwünsche zu. Kaka Faruq klopfte mir mit seiner sauberen Hand auf den Rücken. Ich hätte mir am liebsten ein Messer ins Auge gestoßen.
Später, weit nach Mitternacht, nachdem Baba und seine Cousins ein paar Stunden Poker gespielt hatten, legten sich die Männer im selben Zimmer, wo wir zu Abend gegessen hatten, auf Matratzen nieder. Die Frauen gingen nach oben. Eine Stunde später konnte ich immer noch nicht schlafen. Ich wälzte mich hin und her, während meine Verwandten im Schlaf grunzten und seufzten und schnarchten. Ich setzte mich auf. Ein Streifen Mondlicht schien durch das Fenster.
»Ich habe zugesehen, wie Hassan vergewaltigt wurde«, sagte ich in das Zimmer hinein. Baba bewegte sich im Schlaf. Kaka Homayoun grunzte. Ein Teil von mir hoffte, dass jemand aufwachen und mich hören würde, damit ich nicht länger mit der Lüge leben musste. Aber niemand erwachte, und in der Stille, die folgte, begriff ich das Wesen meines neuen Fluchs: Ich würde ungeschoren davonkommen.
Ich dachte über Hassans Traum nach, den, in dem wir beide im See geschwommen waren. Es gibt keine Ungeheuer, hatte er gesagt, nur Wasser. Aber da hatte er sich getäuscht. Es gab sehr wohl ein Ungeheuer im See. Es hatte Hassan an den Fußknöcheln gepackt und ihn auf den trüben Grund hinuntergezogen. Ich war das Unge heuer.
Das war die Nacht, in der meine Schlaflosigkeit begann.
Hassan sprach ich erst in der Mitte der darauffolgenden Woche wieder. Ich hatte mein Mittagessen zur Hälfte aufgegessen, und Hassan spülte. Ich war schon halb die Treppe hinauf, um auf mein Zimmer zu gehen, als Hassan fragte, ob ich Lust hätte, mit auf den Hügel zu kom men. Ich antwortete, dass ich müde sei. Hassan sah auch müde aus — er hatte abgenommen, und dunkle Ringe lagen unter seinen geschwollenen Augen. Aber als er erneut fragte, stimmte ich widerstrebend zu.
Wir mühten uns den Hügel hinauf; unsere Stiefel stapften durch den matschigen Schnee. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir setzten uns unter unseren Granatapfelbaum, und ich wusste, dass ich einen Fehler begangen hatte. Ich hätte ihn nicht auf den Hügel begleiten sollen. Die Worte, die ich mit Alis Küchenmesser in den Stamm geritzt hatte — Amir und Hassan, die Sultane von Kabul… ich ertrug es einfach nicht, sie zu sehen.
Er bat mich, ihm aus dem Shahname vorzulesen, und ich erklärte ihm, dass ich meine Meinung geändert hätte. Erklärte ihm, dass ich lieber auf mein Zimmer gehen würde. Er blickte zur Seite und zuckte mit den Schultern. Wir gingen auf dieselbe Weise hinunter, wie wir heraufgekommen waren: schweigend. Und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich es kaum erwarten, dass der Frühling kam.
Der Rest meiner Erinnerung an den Winter des Jahres 1975 ist ziemlich vage. Ich weiß noch, dass ich froh war, wenn sich Baba zu Hause aufhielt. Wir aßen zusammen, gingen ins Kino, besuchten Kaka Homayoun oder Kaka Faruq. Manchmal kam Rahim Khan zu Besuch, und Baba erlaubte mir, mit ihnen im Arbeitszimmer zu sitzen und Tee zu trinken. Ab und zu durfte ich ihm sogar eine von meinen Geschichten vorlesen. Es war toll, und ich glaubte sogar, dass es so bleiben würde. Und Baba glaubte es vielleicht auch. Aber wir hätten es beide besser wissen müssen. Zumindest für ein paar Monate gaben wir beide uns nach dem Drachenturnier einer schönen Illusion hin, sahen einander in einem völlig neuen Licht. Wir bildeten uns tatsächlich ein, dass ein Spielzeug aus Seidenpapier, Leim und Bambus in der Lage sein könnte, die Kluft zwischen uns zu überbrücken.