Aber wenn Baba weg war — und er war ziemlich oft weg —, vergrub ich mich in meinem Zimmer. Ich las alle paar Tage ein Buch, schrieb Geschichten, lernte, wie man Pferde zeichnete. Morgens hörte ich Hassan in der Küche herumschlurfen, hörte das Klirren des Tafelsilbers, das Pfeifen des Teekessels. Ich wartete dann immer, bis ich vernahm, wie die Tür zuschlug, und ging erst danach hinunter um zu frühstücken. Auf meinem Kalender zeich nete ich einen dicken Kreis um das Datum des ersten Schultages und begann die Tage bis dahin zu zählen.
Zu meiner Bestürzung versuchte Hassan immer wieder, die Dinge zwischen uns aufleben zu lassen. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal. Ich war in meinem Zimmer, las gerade in einer Farsi-Übersetzung des Ivanhoe, als er an die Tür klopfte.
»Was ist denn?«
»Ich gehe zum Bäcker, um naan zu kaufen«, sagte er von der anderen Seite. »Ich wollte fragen, ob du… ob du Lust hättest mitzukommen?«
»Ich glaube, ich lese lieber«, erwiderte ich und rieb mir die Schläfen. In letzter Zeit bekam ich in Hassans Nähe immer Kopfschmerzen.
»Es ist ein sonniger Tag«, sagte er.
»Das sehe ich.«
»Ein Spaziergang würde vielleicht Spaß machen.«
»Geh nur.«
»Ich fände es aber besser, wenn du mitkommen würdest«, sagte er. Verstummte. Etwas bumste gegen die Tür. Vielleicht seine Stirn. »Was habe ich denn nur getan, Amir Aga? So sag es mir doch. Warum spielen wir denn nicht mehr zusammen?«
»Du hast gar nichts getan, Hassan. Geh einfach.«
»Wenn du es mir sagst, höre ich damit auf.«
Ich vergrub den Kopf in meinem Schoß, drückte die Knie wie einen Schraubstock gegen meine Schläfen. »Ich werde dir sagen, womit du aufhören sollst«, murmelte ich mit zusammengepressten Lidern.
»Nur zu. Ich werde es tun.«
»Ich möchte, dass du aufhörst, mich zu belästigen. Ich möchte, dass du weggehst«, rief ich. Wenn er es mir doch nur mit gleicher Münze heimgezahlt, die Tür aufgebrochen und mich beschimpft hätte — dann wären die Dinge leichter, besser geworden. Aber er tat nichts dergleichen, und als ich die Tür Minuten später öffnete, war er nicht mehr da. Ich ließ mich auf das Bett fallen, vergrub meinen Kopf unter dem Kissen und weinte.
Danach existierte Hassan für mich nur noch am Rande meines Lebens. Ich sorgte dafür, dass sich unsere Wege so wenig wie möglich kreuzten, richtete meine Tage entsprechend ein. Denn wenn er in der Nähe war, wurde die Luft im Raum knapp. In meiner Brust wurde es eng, und ich konnte nicht mehr richtig atmen; ich stand keuchend da in meiner eigenen, kleinen, luftleeren Blase. Aber selbst wenn er nicht da war, war seine Anwesenheit spürbar. Da waren die von seiner Hand gewaschenen und gebügelten Kleider auf dem Rohrstuhl, da waren die warmen Hausschuhe, die er draußen vor meiner Tür bereitgestellt hatte, da waren die Holzscheite, die er in den Ofen gelegt hatte und die bereits brannten, wenn ich zum Frühstück herunterkam. Egal, wohin ich auch blickte, überall sah ich die Zeichen seiner Loyalität, seiner gottverdammten unerschütterlichen Loyalität.
Zu Beginn des Frühlings, ein paar Tage bevor das neue Schuljahr anfing, pflanzten Baba und ich im Garten Tulpen. Der meiste Schnee war geschmolzen, und die Berge im Norden trugen bereits Tupfen von grünem Gras. Es war ein kühler, grauer Morgen, und Baba hockte neben mir, hob mit einem kleinen Spaten Löcher aus und pflanzte die Zwiebeln, die ich ihm reichte. Er erklärte mir gerade, dass die meisten Leute glaubten, es sei besser, Tulpen im Herbst zu pflanzen, dies stimme aber nicht, da platzte ich einfach damit heraus und sagte zu ihm: »Baba, hast du jemals darüber nachgedacht, dir andere Dienstboten zu nehmen?«
Er ließ die Tulpenzwiebel fallen und stieß den Spaten in die Erde. Dann zog er die Gartenhandschuhe aus. Ich hatte ihn erschreckt. »Chi? Was hast du da gesagt?«
»Ich habe bloß laut nachgedacht, das ist alles.«
»Warum sollte ich so etwas tun?«, fragte Baba kurz.
»Würdest du ja eh nicht. Es war nur so eine Frage«, erwiderte ich, und meine Stimme wurde zu einem Murmeln. Ich bereute bereits, dass ich es gesagt hatte.
»Geht es hier um dich und Hassan? Ich weiß, dass da etwas zwischen euch beiden nicht stimmt, aber was immer es auch ist, du wirst allein damit klarkommen müssen. Ich halte mich da raus.«
»Tut mir Leid, Baba.«
Er zog seine Handschuhe wieder an. »Ich bin mit Ali aufgewachsen«, sagte er durch zusammengebissene Zähne hindurch. »Mein Vater hat ihn aufgenommen, er hat Ali wie einen eigenen Sohn geliebt. Ali ist seit vierzig Jahren bei meiner Familie. Vierzig gottverdammte Jahre. Und du glaubst, ich würde ihn einfach so hinauswerfen?« Er wandte sich mir jetzt mit einem Gesicht zu, das so rot war wie eine Tulpe. »Ich habe bisher niemals Hand an dich gelegt, Amir, aber wenn du jemals wieder so etwas sagen solltest…« Er blickte zur Seite, schüttelte den Kopf. »Du machst mir Schande. Und Hassan… Hassan geht nirgendwohin, hast du verstanden?«
Ich blickte zu Boden, beugte mich hinunter und hob eine Faust voll kühler Erde auf. Ließ sie zwischen meinen Fingern hindurchrieseln.
»Ob du mich verstanden hast?«, brüllte Baba.
Ich zuckte zusammen. »Ja, Baba.«
»Hassan geht nirgendwohin«, fuhr mich Baba an. Er grub ein neues Loch mit dem kleinen Spaten, stieß dabei fester in die Erde als zuvor. »Er bleibt hier bei uns, wo er hingehört. Das hier ist sein Zuhause, und wir sind seine Familie. Also stell mir diese Frage nie wieder!«
»Das werde ich nicht, Baba. Es tut mir Leid.«
Wir pflanzten den Rest der Tulpen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.
Ich war erleichtert, als in jener Woche die Schule begann. Schüler mit neuen Heften und gespitzten Bleistiften in der Hand schlenderten über den Schulhof, wirbelten dabei Staub auf, unterhielten sich in Gruppen, warteten auf die Pfiffe der Klassenführer. Baba fuhr die unbefestigte Straße hinunter, die zum Eingang der Istiqlal-Mittelschule führte. Die Schule war in einem alten zweistöckigen Gebäude mit zerbrochenen Fenstern und düsteren, mit Steinfliesen belegten Gängen untergebracht, an deren Wänden zwischen dem abplatzenden Putz die ursprüngliche mattgelbe Farbe durchkam. Die meisten der Jungen kamen zu Fuß zur Schule, und Babas schwarzer Mustang zog mehr als nur einen neidischen Blick auf sich. Ich hätte vor Stolz strahlen sollen, als er mich absetzte — der alte Amir hätte es wohl auch getan —, aber das Einzige, was ich aufzubringen vermochte, war eine leichte Form von Verlegenheit. Und ein Gefühl der Leere. Baba fuhr davon, ohne sich zu verabschieden.
Ich wich dem Vergleichen der Narben, das die Drachenkämpfer gemeinhin untereinander anstellten, aus und nahm sofort meinen Platz in der Reihe ein. Die Glocke läutete, und wir marschierten paarweise in die uns zugewiesene Klasse. Ich saß in der letzten Reihe. Als der Farsi-Lehrer die Bücher austeilte, hoffte ich inständig auf jede Menge Hausaufgaben.
Die Schule lieferte mir einen Vorwand, um stundenlang in meinem Zimmer sitzen zu können. Und für eine Weile lenkte sie mich von dem ab, was in jenem Winter geschehen war — was ich hatte geschehen lassen. Einige Wochen lang beschäftigte ich mich mit Schwerkraft und Bewegungsenergie, mit Atomen und Elementen, den Kriegen zwischen Engländern und Afghanen, statt über Hassan und das, was mit ihm geschehen war, nachzudenken. Aber meine Gedanken kehrten immer wieder zu jener Gasse zurück. Zu Hassans brauner Cordhose, die auf den Ziegelsteinen liegt. Zu den Blutstropfen, die den Schnee dunkelrot, beinahe schwarz färben.
An einem trägen, diesigen Sommernachmittag bat ich Hassan, mit mir auf den Hügel zu gehen. Sagte ihm, ich wolle ihm eine neue Geschichte vorlesen, die ich geschrieben hatte. Er hängte gerade im Garten die Wäsche zum Trocknen auf, und ich erkannte seinen Eifer an der Hast, mit der er die Arbeit zu Ende brachte.