Wir stiegen den Hügel hinauf und plauderten über Belanglosigkeiten. Er fragte mich nach der Schule, was ich so lernte, und ich redete über meine Lehrer, besonders über den gemeinen Mathematiklehrer, der Schüler, die sich im Unterricht unterhielten, damit bestrafte, dass er ihnen eine Metallstange zwischen die Finger steckte und die Finger dann fest zusammendrückte. Hassan zuckte zusammen, als er das hörte, und sagte, er hoffe, dass ich diese Erfahrung noch niemals hatte machen müssen. Ich erwiderte ihm, dass ich bisher Glück gehabt hätte, obwohl ich wusste, dass Glück gar nichts damit zu tun hatte. Ich hatte mich oft genug während des Unterrichts unter halten. Aber mein Vater war reich, und jeder kannte ihn, also wurde mir die Behandlung mit der Metallstange erspart.
Wir setzten uns in den Schatten des Granatapfelbaums, lehnten uns mit dem Rücken an die niedrige Friedhofsmauer. In einem Monat oder auch zwei würde lauter von der Sonne verbranntes, vergilbtes Gras den Abhang überziehen, aber in jenem Jahr hatten die Regenfälle des Frühjahrs länger als gewöhnlich gedauert, hatten sich bis in den Frühsommer hinein erstreckt, und das Gras war noch immer grün und mit einem Gewirr von Wildpflanzen durchzogen. Unter uns schimmerten die Häuser des Wazir-Akbar-Khan-Viertels mit ihren weißen Mauern und den flachen Dächern in der Sonne. Wäschestücke hing an Leinen in den Gärten und tanzten vom Wind beseelt wie Schmetterlinge.
Wir hatten ein Dutzend Granatäpfel vom Baum gepflückt. Ich faltete die Geschichte auseinander, die ich mitgebracht hatte, wandte mich der ersten Seite zu, legte die Blätter dann aber wieder weg, stand auf und griff mir einen überreifen Granatapfel, der zu Boden gefallen war.
»Was würdest du machen, wenn ich dich damit bewerfen würde?«, fragte ich und warf die Frucht einige Male kurz in die Höhe.
Hassans Lächeln erstarb. Er sah älter aus, als ich in Erinnerung hatte. Nein, nicht älter, alt. War das möglich? Tiefe Furchen hatten sich in sein gebräuntes Gesicht ge graben, und um Augen und Mund herum hatten sich Falten gebildet. Ich hätte diese Furchen genauso gut selbst mit einem Messer in seine Haut ritzen können.
»Was würdest du machen?«, wiederholte ich.
Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Neben ihm begannen die mit einer Heftklammer zusammengehaltenen Seiten der Geschichte, die ich vorzulesen versprochen hatte, in der Brise zu flattern. Ich schleuderte den Granatapfel in seine Richtung. Ich traf ihn mitten auf der Brust, der Apfel zerplatzte zu einem spritzenden roten Brei. In Hassans Schrei schwangen Überraschung und Schmerz mit.
»Wehr dich! Bewirf mich auch!«, fuhr ich ihn an. Hassan blickte von dem Fleck auf seiner Brust zu mir.
»Steh auf! Wirf!«, sagte ich. Hassan stand tatsächlich auf, aber er blieb einfach stehen und sah benommen drein wie ein Mann, den das zurückströmende Wasser ins Meer gezogen hat, wo er doch einen Augenblick zuvor noch fröhlich am Strand entlangspaziert ist.
Ich bewarf ihn mit einem weiteren Granatapfel, traf ihn dieses Mal an der Schulter. Der Saft spritzte ihm ins Gesicht. »Wirf schon zurück!«, fauchte ich. »Wirf, verdammt noch mal!« Wenn er es doch nur tun würde! Wenn er mir doch nur endlich die Bestrafung zukommen lassen würde, nach der ich mich so sehnte, dann könnte ich nachts vielleicht endlich wieder schlafen. Und es würde zwischen uns vielleicht auch wieder so sein, wie es früher gewesen war. Aber Hassan reagierte nicht, egal, wie viele Früchte ich auch nach ihm schleuderte. »Du bist ein Feigling!«, rief ich. »Ein gottverdammter Feigling!«
Ich weiß nicht, wie oft ich ihn traf. Ich weiß nur, dass Hassan, als ich endlich vor Erschöpfung keuchend aufhörte, von oben bis unten rot beschmiert war, als hätte ein Exekutionskommando sämtliche Flinten auf ihn abgefeuert. Müde, erschöpft und frustriert sank ich in die Knie.
Dann hob Hassan doch einen Granatapfel auf. Kam auf mich zu. Brach ihn auf und zerdrückte ihn an seiner Stirn. »Da«, krächzte er, während ihm der rote Saft wie Blut über das Gesicht lief, »bist du jetzt zufrieden? Fühlst du dich jetzt besser?« Er drehte sich um und machte sich auf den Rückweg den Hügel hinunter.
Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, schaukelte auf den Knien vor und zurück. »Was fange ich nur mit dir an, Hassan? Was fange ich nur mit dir an?« Aber als die Tränen getrocknet waren und ich den Hügel hinuntertrottete, da wusste ich die Antwort auf diese Frage.
Im Sommer des Jahres 1976, der Afghanistans vorletzter Sommer des Friedens und der Unabhängigkeit werden sollte, wurde ich dreizehn Jahre alt. Das Verhältnis zwischen Baba und mir war bereits wieder abgekühlt. Begonnen hatte es wohl mit meiner dummen Bemerkung über neue Dienstboten, die ich gemacht hatte, als wir die Tulpen pflanzten. Ich bedauerte, dass ich es gesagt hatte — bedauerte es wirklich aufrichtig —, aber ich glaube, selbst wenn es mir nicht über die Lippen gekommen wäre, hätte unser fröhliches kleines Zwischenspiel bald ein Ende gefunden. Vielleicht nicht ganz so rasch, aber es wäre auf jeden Fall irgendwann vorbei gewesen. Am Ende des Sommers hatte das Kratzen von Löffel und Gabel auf den Tellern die Unterhaltung am Abendbrottisch ersetzt, und nach dem Essen zog sich Baba nun wieder hinter die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers zurück. Ich blätterte erneut in den Büchern von Hafis und Khayyam, kaute an meinen Fingernägeln und schrieb Geschichten. Die Geschichten stapelte ich unter meinem Bett. Ich bewahrte sie für den — unwahrscheinlichen — Fall auf, dass Baba mich irgendwann vielleicht doch noch einmal bitten würde, sie ihm vorzulesen.
Babas Motto in Bezug auf Partys lautete: Am besten, man lädt die ganze Welt ein, sonst ist es keine richtige Party. Ich weiß noch, wie ich mir eine Woche vor meiner Geburtstagsfeier die Gästeliste ansah und mindestens drei Viertel der vierhundert geladenen Gäste — abgesehen von all den Kakas und Khalas —, die mir Geschenke bringen und mir dazu gratulieren sollten, dass ich dreizehn Jahre alt geworden war, gar nicht kannte. Dann wurde mir klar, dass sie eigentlich gar nicht meinetwegen kamen. Es mochte wohl mein Geburtstag sein, aber ich wusste, wer der eigentliche Star bei dieser Sache war.
Seit Tagen wimmelte das Haus von Leuten. Da war Salahuddin, der Metzger, der mit einem Kalb und zwei Schafen im Schlepptau auftauchte und sich weigerte, für die drei irgendeine Bezahlung anzunehmen. Er schlachtete die Tiere eigenhändig bei der Pappel im Garten. Ich weiß noch, wie er behauptete, dass das Blut gut sei für den Baum, als das Gras um die Pappel vom Rot durchtränkt wurde. Männer, die ich nicht kannte, kletterten mit aufgerollten Lichterketten und meterlangen Verlängerungsschnüren in die Eichen hinauf. Andere bauten Dutzende von Tischen im Garten auf und legten Decken auf jeden einzelnen. Am Abend vor der großen Feier kam Babas Freund Del-Mohammad, dem ein Kebab-Haus in Shar-e-Nau gehörte, mit seinen Gewürzsäcken zu uns ins Haus. Wie schon der Metzger weigerte sich auch Del-Mohammad — oder Dello, wie Baba ihn nannte —, irgendeine Bezahlung für seine Dienste anzunehmen. Er sagte, Baba habe schon genug für seine Familie getan. Es war Rahim Khan, der mir, während Dello das Fleisch marinierte, zuflüsterte, dass Baba Dello Geld gegeben hatte, damit der sein Restaurant eröffnen konnte. Baba hatte sich geweigert, sich das Geld zurückzahlen zu lassen, bis Dello eines Tages in einem Mercedes die Auffahrt heraufgekommen war und Baba erklärt hatte, dass er erst dann wieder fahren würde, wenn Baba sein Geld angenommen hätte.
Ich nehme an, dass man meine Geburtstagsparty wohl in vielerlei Hinsicht — oder zumindest unter dem Ge sichtspunkt aller für eine Party wichtigen Kriterien — als einen großen Erfolg bezeichnen könnte. Noch nie war unser Haus so voll gewesen. Gäste mit gefüllten Gläsern in der Hand unterhielten sich auf den Fluren, rauchten auf der Treppe ihre Zigaretten, lehnten an Türrahmen. Sie setzten sich, wo sie gerade Platz fanden: auf die Arbeitsflächen in der Küche, in die Eingangshalle, sogar unter die Treppe. Im Garten vermischten sie sich unter dem blauen, roten und grünen Glühen der Lampen, die in den Bäumen blinkten, die Gesichter erleuchtet vom Licht der Petroleumfackeln, die überall in der Erde steckten.