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Er nickte. »Ja, wirklich. Ich war achtzehn. Ihr Name lautete Homaira. Sie war eine Hazara, die Tochter der Dienstboten unseres Nachbarn. Sie war so wunderschön wie ein pari, ein Engel, mit hellbraunem Haar, großen, haselnussbraunen Augen… und sie hatte so ein Lachen… Ich kann es manchmal heute noch hören.« Er schwenkte sein Glas. »Wir haben uns immer heimlich im Obstgarten meines Vaters getroffen, immer nach Mitternacht, wenn alle schon schliefen. Dann sind wir unter den Bäumen entlangspaziert, und ich habe ihre Hand gehalten… Mache ich dich verlegen, Amir jan?«.

»Ein bisschen«, gab ich zu.

»Es wird dich nicht umbringen«, erwiderte er und paffte an seiner Zigarette. »Also, wir hatten uns unser Leben so schön ausgemalt. Wir träumten von einer großartigen, wundervollen Hochzeit, zu der wir unsere Familien und Freunde von Kabul bis Kandahar einladen wollten. Wir träumten davon, Obstbäume im Garten zu pflanzen und alle möglichen Blumen, von einem Rasen, auf dem unsere Kinder spielen konnten. Und an den Freitagen, nach dem namaz in der Moschee, sollten sich alle zum Essen in unserem Haus treffen, und wir wollten mit ihnen im Garten essen, unter den Kirschbäumen, frisches Wasser aus dem Brunnen trinken. Und danach hätte es Tee mit Süßigkeiten gegeben, während wir zusahen, wie unsere Kinder mit ihren Cousins spielten…«

Er nahm einen großen Schluck von seinem Scotch. »Du hättest einmal den Gesichtsausdruck meines Vaters sehen sollen, als ich ihm davon erzählte. Meine Mutter ist sogar in Ohnmacht gefallen. Meine Schwestern haben ihr Wasser ins Gesicht gespritzt und ihr Luft zugefächelt und mir einen Blick zugeworfen, als hätte ich ihr die Kehle durchgeschnitten. Mein Bruder Jalal hatte bereits sein Jagdgewehr geholt, bevor mein Vater ihn aufhalten konnte.« Rahim Khan stieß ein bellendes, verbittertes Lachen aus. »Homaira und ich mussten es allein gegen die ganze Welt aufnehmen. Und du darfst mir eins glauben, Amir jan: Am Ende ist es immer die Welt, die gewinnt. So ist das nun einmal.«

»Und was ist dann passiert?«

»Am selben Tag noch hat mein Vater Homaira und ihre Familie auf einen Lastwagen verfrachtet und sie in den Hazarajat geschickt. Ich habe sie nie wiedergesehen.«

»Das tut mir Leid«, sagte ich.

»Ist wahrscheinlich besser so gewesen«, sagte Rahim Khan und zuckte mit den Schultern. »Sie hätte darunter gelitten. Meine Familie hätte sie niemals als eine der Ihren akzeptiert. Man kann doch niemanden mit Schwester anreden, dem man gestern noch befohlen hat, die Schuhe zu putzen.« Er blickte mich an. »Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst, Amir. Ich bin immer für dich da. Jederzeit.«

»Ich weiß«, sagte ich unsicher. Er blickte mich lange an, als wartete er auf etwas, und seine schwarzen unergründlichen Augen deuteten an, dass es ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns gab. Einen Moment lang war ich versucht, ihm davon zu erzählen. Ihm alles zu erzählen, aber was würde er dann wohl von mir halten? Er würde mich verabscheuen, und das mit Recht.

»Hier.« Er reichte mir etwas. »Das hätte ich beinahe vergessen. Alles Gute zum Geburtstag.« Es war ein Notizbuch, in braunes Leder gebunden. Ich fuhr mit den Fingern über die mit Gold abgesteppten Kanten. Roch an dem Leder. »Für deine Geschichten«, sagte er. Ich wollte mich gerade bei ihm bedanken, als ein Krachen ertönte und Lichter über den Himmel zuckten.

»Ein Feuerwerk!«

Wir eilten zum Haus zurück, und dort standen alle Gäste im Garten und blickten zum Himmel hinauf. Kinder johlten und schrien bei jedem Prasseln und Zischen. Die Leute jubelten und brachen jedes Mal in Beifall aus, wenn eine Rakete hinaufschoss und in einem Feuerstrauß explodierte. Alle paar Sekunden wurde der Garten in ro tes, grünes und gelbes Licht getaucht.

Während einer dieser Salven sah ich etwas, das ich niemals vergessen werde: Hassan servierte Assef und Wali Getränke von einem Silbertablett. Das Licht funkelte und erstarb, dann ein Zischen und ein Knistern und wieder ein Flackern, dieses Mal orangefarben: ein grinsender Assef, der Hassan einen Fingerknöchel gegen die Brust drückt.

Dann gnädigerweise Dunkelheit.

9

Am nächsten Morgen saß ich in meinem Zimmer und riss ein Geburtstagspäckchen nach dem anderen auf. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe machte, sie auszupacken, da ich sämtliche Geschenke nur mit einem freudlosen Blick bedachte und dann in die Ecke warf. Der Haufen dort wurde immer höher: eine Polaroidkame ra, ein Transistorradio, eine aufwändige elektrische Eisenbahn — und mehrere zugeklebte Briefumschläge, die Bargeld enthielten. Ich wusste, dass ich weder das Geld ausgeben noch dem Radio lauschen würde, und auch die elektrische Eisenbahn würde niemals in meinem Zimmer über ihre Schienen rollen. Ich wollte nichts davon haben — es war alles Blutgeld; Baba hätte niemals eine solche Feier für mich ausgerichtet, wenn ich nicht das Turnier gewonnen hätte.

Von ihm bekam ich zwei Geschenke. Das eine hätte gewiss den Neid jedes Kindes in der Nachbarschaft hervorgerufen: ein nagelneues Fahrrad der Marke »Schwinn Stingray«, das beste aller Fahrräder. Nur eine Hand voll Kinder in ganz Kabul besaß ein solches Stingray, und jetzt gehörte ich dazu. Das Rad hatte einen hohen, geschwungenen Lenker mit schwarzen Gummigriffen und natürlich einen Bananensattel. Die Speichen waren goldfarben, der Stahlrahmen rot wie ein kandierter Apfel. Oder wie Blut. Vor ein paar Monaten wäre ich wie jedes andere Kind auch sofort auf das Rad gesprungen und damit durch die Straßen gerast.

»Gefällt es dir?«, fragte Baba, der im Türrahmen meines Zimmers lehnte. Ich warf ihm ein verlegenes Grinsen zu und brachte mühsam ein »Danke schön« hervor.

»Wir könnten eine kleine Fahrt unternehmen«, sagte Baba. Eine Einladung, wenn auch nur eine halbherzige.

»Vielleicht später. Ich bin ein wenig müde«, sagte ich.

»Verstehe«, erwiderte Baba.

»Baba?«

»Ja?«

»Danke für das Feuerwerk«, sagte ich. Ein Dankeschön, wenn auch nur ein halbherziges.

»Ruh dich etwas aus«, riet er mir und verschwand in Richtung seines Zimmers.

Das andere Geschenk, das ich von Baba bekommen hatte — und er wartete gar nicht erst ab, bis ich es ausgepackt hatte —, war eine Armbanduhr. Sie hatte ein blaues Zifferblatt und goldene Zeiger in der Form von Blitzen. Ich probierte sie nicht einmal an. Warf sie auf den Haufen von Spielzeug in der Ecke. Das einzige Geschenk, das ich nicht auf den Haufen warf, war Rahim Khans in Feder gebundenes Notizbuch. Das war das Einzige, was mir nicht wie Blutgeld vorkam.

Ich setzte mich auf die Bettkante, drehte und wendete das Notizbuch in meinen Händen und dachte darüber nach, was mir Rahim Khan von Homaira erzählt hatte — dass es am Ende das Beste gewesen war, dass sein Vater sie fortgeschickt hatte. Sie hätte darunter gelitten. Vor meinem inneren Auge blitzte immer wieder ein einziges Bild auf, wie die Male, wenn Kaka Homayouns Projektor bei einem Dia hängen blieb: Hassan, der mit gebeugtem Kopf Assef und Wali Getränke servierte. Vielleicht wäre es wirklich das Beste. Würde sein Leiden lindern. Und meines auch. Wie auch immer man es sah, drehte und wendete, eins war klar: Einer von uns musste gehen.

Später am Nachmittag nahm ich das Fahrrad auf seine erste und letzte Fahrt mit. Ich strampelte ein paarmal um den Block und kam zurück. Rollte die Auffahrt hinauf bis zum Garten, wo Hassan und Ali das Durcheinander von der gestrigen Party aufräumten. Papierbecher, zusammengeknüllte Servietten und leere Sodawasserflaschen lagen überall verstreut. Ali klappte gerade Stühle zusammen und lehnte sie gegen die Mauer. Er sah mich und winkte.