Wir befanden uns ein paar Kilometer westlich von Mahipar und seinem Wasserfall, als Karim am Straßenrand anhielt. Mahipar — was »Fliegender Fisch« bedeutet — war eine hoch gelegene Bergkuppe mit einem steilen Abhang, von der aus man das Wasserkraftwerk überblicken konnte, das die Deutschen 1967 für Afghanistan gebaut hatten. Baba und ich waren auf dem Weg nach Jalalabad — der Stadt der Zypressen und der Zuckerrohrfelder, wo die Afghanen im Winter Urlaub machten — unzählige Male diese über 1000 Meter hoch gelegene und 40 Kilometer lange Passstrecke entlanggefahren.
Ich sprang von der Ladefläche des Lastwagens und taumelte zur staubigen Böschung am Straßenrand. Mein Mund hatte sich mit Magensaft gefüllt, ein Anzeichen dafür, dass das Gewürge gleich wieder losgehen würde. Ich stolperte zu dem Felsvorsprung hinüber, von dem aus man sonst das tiefe Tal überblicken konnte, das nun in Dunkelheit gehüllt dalag. Ich bückte mich, die Hände auf die Knie gestützt, und wartete auf die Galle. Irgendwo brach ein Ast, und der Schrei einer Eule ertönte. Der kalte Wind ließ die Zweige der Bäume knacken und fuhr in die Büsche, die den Abhang sprenkelten. Und von unten ertönte das Geräusch von Wasser, das durch das Tal stürzte.
Während ich so gebückt am Straßenrand stand, dachte ich daran, wie wir das Haus verlassen hatten, in dem ich mein ganzes Leben gewohnt hatte — als wären wir nur gerade einmal kurz weggegangen, um einen Happen zu essen: Mit kofta verschmierte Teller stapelten sich in der Spüle, die Wäsche lag im Weidenkorb in der Halle, die Betten waren ungemacht, Babas Geschäftsanzüge hingen im Schrank. An den Wänden des Wohnzimmers befanden sich noch die Gobelins, und die Bücher meiner Mutter standen immer noch in den voll gestopften Regalen in Babas Arbeitszimmer. Die Anzeichen unserer Flucht waren nur für einen sehr aufmerksamen Beobachter wahrnehmbar: Das Hochzeitsfoto meiner Eltern war verschwunden, ebenso wie das unscharfe Foto von meinem Großvater und König Nadir Shah, auf dem sie mit dem toten Hirsch zu sehen sind. Einige wenige Kleidungsstücke fehlten in den Schränken. Das in Leder gebundene Notizbuch, das mir Rahim Khan vor fünf Jahren geschenkt hatte, war auch nicht mehr da.
Am Morgen würde Jalaluddin — unser siebter Dienstbote in fünf Jahren — sicherlich glauben, dass wir spazieren gegangen oder zu einer kleinen Spritztour weggefahren waren. Wir hatten ihm nichts erzählt. Man konnte niemandem in Kabul mehr trauen; für Geld oder unter Androhung von Gewalt verrieten die Leute einander, der Nachbar den Nachbarn, das Kind die Filtern, der Bruder den Bruder, der Diener den Herrn, der Freund den Freund. Ich erinnerte mich an den Sänger Ahmad Zahir, der an meinem dreizehnten Geburtstag Akkordeon gespielt hatte. Er war mit Freunden mit dem Auto zu einem Ausflug aufgebrochen, und irgendjemand hatte seine Leiche später mit einer Kugel im Kopf am Straßenrand gefunden. Die rafiqs, die Genossen, waren überall, und sie hatten Kabul in zwei Gruppen gespalten: die, die heimlich lauschten, und die, die es nicht taten. Das Problem war, dass niemand wusste, wer zu welcher Gruppe gehörte. So konnte man beispielsweise, wenn man beim Anpassen des neuen Anzugs beim Schneider eine beiläufige Bemerkung fallen ließ, dafür in den Kerkern von Koteh-Sangi landen. Beschwerte man sich beim Metzger über die Ausgangssperre, saß man, ehe man sichs versah, hinter Gittern und blickte in den Lauf einer Kalaschnikow. Selbst am Abendbrottisch, im eigenen Heim, konnten die Menschen nicht einfach so drauflosreden — die rafiqs waren auch in den Klassenzimmern; sie hatten den Kinder beigebracht, ihre Eltern auszuspionieren: worauf es zu hören galt, wem man es sagen sollte.
Was hatte ich nur mitten in der Nacht auf dieser Straße zu suchen? Ich hätte im Bett sein sollen, unter meiner Decke, ein Buch mit Eselsohren neben mir auf dem Nachttisch. Das hier war nur ein Traum. Das konnte nur ein Traum sein. Morgen früh würde ich aufwachen und aus dem Fenster sehen, und es gäbe keine russischen Soldaten mit grimmigen Gesichtern mehr, die über die Gehsteige patrouillierten, keine Panzer, die durch die Straßen meiner Stadt rollten und ihre Türme wie anklagende Finger hin und her drehten, keine Trümmer, keine Ausgangssperren, keine russischen Truppentransporter, die sich ihre Wege durch die Basare bahnten.
Dann hörte ich, wie Baba und Karim hinter mir bei einer Zigarette die Regelung in Jalalabad besprachen. Karim versicherte Baba, dass sein Bruder einen großen Lastwagen »von hervorragender und erstklassiger Qualität« besitze und dass der Weg nach Peshawar für ihn bloße Routine darstelle. »Er könnte Sie mit geschlossenen Augen dorthin fahren«, behauptete Karim. Ich hörte, wie er Baba erzählte, dass sein Bruder und er die russischen und afghanischen Soldaten kannten, die an den Kontrollposten Dienst taten, dass sie eine Vereinbarung getroffen hatten, die »für beide Seiten profitabel« war. Das hier war kein Traum. Plötzlich heulte wie aufs Stichwort eine Mig über uns hinweg. Karim warf seine Zigarette weg und zog eine Pistole aus dem Gürtel. Richtete sie auf den Himmel und tat so, als würde er schießen, während er auf die Mig spuckte und sie verfluchte.
Ich fragte mich, wo Hassan wohl sein mochte. Und dann das Unvermeidliche: Ich erbrach mich auf ein Ge wirr von Unkraut, und mein Würgen und Stöhnen ging im ohrenbetäubenden Donnern der Mig unter.
Zwanzig Minuten später erreichten wir den Kontrollposten in Mahipar. Unser Fahrer ließ den Lastwagen mit laufendem Motor stehen und sprang hinunter, um die sich nähernden Stimmen zu begrüßen. Füße stampften knirschend über Schotter. Worte wurden gewechselt, kurz nur und mit gedämpften Stimmen. Das Schnipsen eines Feuerzeugs. »Spassiba.«
Hin weiteres Schnipsen des Feuerzeugs. Jemand lachte — ein schrilles, meckerndes Lachen, das mich zusammenzucken ließ. Babas Hand umklammerte meinen Ober schenkel. Der lachende Mann stimmte ein Lied an, trug nuschelnd und mit einem starken russischen Akzent fürchterlich falsch ein altes afghanisches Hochzeitslied vor:
Stiefelabsätze klickten auf Asphalt. Jemand riss die Plane in die Höhe, die hinten über dem Lastwagen herunterhing, und drei Gesichter blickten uns an. Eins gehörte Karim, die anderen beiden Soldaten, von denen einer ein Afghane und der andere ein grinsender Russe mit dem Gesicht einer Bulldogge war, aus dessen Mundwinkel eine Zigarette hing. Hinter ihnen war ein knochenfarbener Mond am Himmel zu sehen. Karim und der afghanische Soldat unterhielten sich kurz auf Paschto. Ich bekam ein wenig davon mit — es ging wohl um Toor und darum, dass er Pech gehabt habe. Der russische Soldat streckte seinen Kopf weiter in den Lastwagen hinein. Er summte das Hochzeitslied und trommelte dabei mit den Fingern auf dem Rand der Klapptür. Sogar im düsteren Licht des Mondes war sein glasiger Blick erkennbar, der von einem Passagier zum nächsten wanderte. Trotz der Kälte standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Seine Augen verharrten bei der jungen Frau mit dem schwarzen Schal. Er sagte etwas auf Russisch zu Karim, ohne den Blick von ihr zu wenden. Karim gab eine kurze Antwort auf Russisch, die der Soldat mit einer noch kürzeren Erwiderung konterte. Der afghanische Soldat sagte auch etwas mit leiser, vernünftiger Stimme. Aber der russische Soldat rief etwas, was die beiden anderen zusammenzucken ließ. Ich spürte Babas Anspannung. Karim räusperte sich, senkte den Kopf. Erklärte, der Soldat wolle eine halbe Stunde mit der Dame hinten im Lastwagen.