Sie nannten ihn »flachnasig« wegen Alis und Hassans mongolider Züge, die den Hazara eigen sind. Viele Jahre lang war dies das Einzige, was ich über die Hazara wuss te: dass sie mongolischer Abstammung sind und ein wenig wie Chinesen aussehen. In den Schulbüchern wurden sie nur beiläufig erwähnt, und über ihre Herkunft erfuhr man kaum etwas. Doch eines Tages, als ich in Babas Arbeitszimmer in seinen Büchern kramte, entdeckte ich ein altes Geschichtsbuch meiner Mutter. Es war von einem Iraner namens Khorami verfasst worden. Ich blies den Staub herunter, schmuggelte es am selben Abend mit ins Bett und stellte erstaunt fest, dass es darin ein ganzes Kapitel über die Geschichte der Hazara gab. Ein ganzes Kapitel, das Hassans Volk gewidmet war! Darin las ich, dass mein eigenes Volk, die Paschtunen, die Hazara verfolgt und unterdrückt hatte. Es hieß darin, dass die Hazara durch die Jahrhunderte immer wieder versucht hatten, sich zu befreien, doch die Paschtunen hatten all diese Versuche »mit unbeschreiblicher Gewalt niedergeschla gen«. In dem Buch hieß es, dass mein Volk die Hazara gefoltert, ihre Häuser angesteckt und ihre Frauen verkauft hatte. In dem Buch hieß es, dass die Paschtunen die Hazara auch deswegen niedergemetzelt hatten, weil die Paschtunen Sunniten und die Hazara Schiiten sind. In dem Buch stand vieles, was ich nicht wusste, Dinge, die meine Lehrer nie erwähnt hatten. Dinge, über die auch Baba niemals gesprochen hatte. Es standen auch einige Dinge darin, die ich wusste, so zum Beispiel, dass die Leute die Hazara als Mäuse fressende, flachnasige Esel bezeichneten, die nur zum Arbeiten taugten. Ich hatte schon gehört, wie manche Kinder im Viertel Hassan auf diese Weise beschimpften.
In der folgenden Woche zeigte ich das Buch nach dem Unterricht meinem Lehrer und deutete auf das Kapitel über die Hazara. Er überflog einige Seiten, kicherte und reichte es mir zurück. »Eins können die Schiiten wirklich gut«, sagte er und griff nach seinen Unterlagen, »sich selbst als Märtyrer hinstellen.« Er rümpfte die Nase, als er das Wort Schiiten aussprach, ganz so, als handelte es sich dabei um eine Krankheit.
Doch trotz ihres gemeinsamen ethnischen Erbes und obwohl das gleiche Blut in ihren Adern floss, tat es Sanaubar den Kindern des Viertels nach und verspottete Ali. Es hieß, sie habe kein Geheimnis aus ihrer Verachtung für sein Aussehen gemacht.
»Soll das etwa ein Ehemann sein?«, lauteten ihre höhnischen Worte. »Ich habe schon alte Esel gesehen, die besser als Ehemänner getaugt hätten.«
Am Ende vermuteten die meisten heute, dass die Eheeine Vereinbarung oder etwas Ähnliches zwischen Ali und seinem Onkel, Sanaubars Vater, gewesen war. Sie behaupteten, Ali habe seine Cousine geheiratet, um dabei zu helfen, den befleckten Namen des Onkels ein wenig reinzuwaschen und dessen Ehre wiederherzustellen, auch wenn er, der mit fünf Jahren zum Waisen geworden war, kein nennenswertes Erbe oder sonstigen Besitz vorweisen konnte.
Ali wehrte sich niemals gegen seine Peiniger. Ich nehme an, das hatte zum Teil damit zu tun, dass er sie mit seinem verwachsenen Bein niemals erwischt hätte. Aber eigentlich lag es wohl daran, dass Ali den Beleidigungen seiner Angreifer gegenüber immun war. Er hatte seine Freude, sein Gegenmittel in dem Moment gefunden, als Sanaubar Hassan zur Welt brachte. Es war eine unkomplizierte Geburt gewesen. Keine Gynäkologen, keine Anästhesisten, keine aufwändigen Überwachungsgeräte. Nur Sanaubar, die auf einer fleckigen, nackten Matratze lag, und Ali und eine Hebamme, die ihr halfen. Dabei hatte sie gar nicht viel Hilfe gebraucht, denn gleich bei seiner Geburt offenbarte Hassan seine Natur: Er war unfähig, einem anderen Wesen Schmerz zuzufügen. Ein paar Ächzer, ein paarmal pressen, und schon kam Hassan heraus. Lächelnd.
Laut der geschwätzigen Hebamme, die es der Dienerin eines Nachbarn anvertraut hatte, die es wiederum jedem erzählte hatte, der es hören wollte, hatte Sanaubar nur einen einzigen Blick auf das Baby in Alis Armen geworfen, die gespaltene Lippe gesehen und dann ein bitteres Lachen ausgestoßen.
»Na also«, hatte sie gesagt, »jetzt hast du ja deinen eigenen Schwachkopf von einem Sohn, der das Lächeln für dich übernehmen kann!« Sie hatte sich geweigert, Hassan auch nur einmal zu halten, und nur fünf Tage später war sie verschwunden.
Baba stellte für Ali die gleiche Amme ein, die schon mich gestillt hatte. Ali erzählte uns, sie sei eine blauäugige Hazara-Frau aus Bamiyan gewesen, der Stadt mit den riesigen Buddha-Statuen. »Was für eine liebliche Stimme sie hatte, wenn sie sang«, erklärte er uns immer wieder.
Was sie denn gesungen habe, fragten Hassan und ich dann für gewöhnlich, obwohl wir es längst wussten — Ali hatte es uns schon unzählige Male erzählt. Wir wollten ihn bloß singen hören.
Er räusperte sich dann immer und begann:
Anschließend erinnerte er uns daran, dass eine Brüder lichkeit zwischen Menschen besteht, die von derselben Brust getrunken haben, eine Verwandtschaft, die nicht einmal die Zeit zu zerstören vermag.
Hassan und ich hatten von derselben Brust getrunken. Wir machten unsere ersten Schritte auf demselben Rasen im selben Garten. Und unter demselben Dach sprachen wir unsere ersten Worte.
Meins lautete Baba.
Seins lautete Amir. Mein Name.
Wenn ich heute zurückblicke, so glaube ich, dass das Fundament für das, was im Winter des Jahres 1975 geschah — und auch für das, was folgte —, bereits mit diesen ersten Worten gelegt wurde.
3
Wenn man den Erzählungen glauben darf, hat mein Vater einmal in Belutschistan mit bloßen Händen mit einem Schwarzbären gerungen. Wäre in den Geschichten von jemand anderem die Rede gewesen, hätte man sie wohl als laaf abgetan, jene afghanische Vorliebe fürs Übertreiben — leider beinahe so etwas wie eine Nationalkrankheit. Wenn einer damit prahlte, dass sein Sohn Arzt war, konnte man davon ausgehen, dass das Kind in der Schule einmal eine Biologieprüfung bestanden hatte. Aber niemand bezweifelte jemals die Richtigkeit irgendeiner Geschichte, in der es um Baba ging. Und falls jemand es doch wagte, nun, Baba hatte tatsächlich diese drei parallel verlaufenden Narben, die einen schartigen Pfad über seinen Rücken zogen. Ich habe mir unzählige Male Babas Ringkampf vorgestellt, sogar davon geträumt. Und in diesen Träumen vermag ich Baba nie von dem Bären zu unterscheiden.
Es war Rahim Khan, der zum ersten Mal in einer Weise von ihm sprach, die später zu Babas berühmtem Spitznamen führen sollte: Toophan agha, Herr Wirbelsturm. Es war ein überaus passender Spitzname. Mein Vater war eine Naturgewalt, ein hoch gewachsenes Exemplar von einem Paschtunen mit einem dichten Bart, eigensinnigem, lockigem braunem Haar, das zu einem Kurzhaarschnitt gestutzt und ebenso ungebärdig war wie der Mann selbst, mit Händen, die den Eindruck erweckten, eine Weide mitsamt ihrer Wurzel ausreißen zu können, und einem düsteren, stechenden Blick, der es vermochte, »den Teufel in die Knie zu zwingen und um Gnade flehen zu lassen«, wie Rahim Khan es auszudrücken pflegte. Wenn er auf Partys mit seinen gut einen Meter fünfundachtzig in den Raum gestürmt kam, richtete sich die Aufmerksamkeit auf ihn wie Sonnenblumen, die sich der Sonne zuwenden.
Es war unmöglich, Baba zu ignorieren, selbst wenn er schlief. Ich steckte mir Baumwollbüschel in die Ohren, zog mir die Decke über den Kopf, und dennoch drangen die Geräusche von Babas Schnarchen — die einem brum menden Lastwagenmotor ähnelten — durch die Wände. Und mein Zimmer lag auf der anderen Seite des Flurs, gegenüber von seinem Schlafzimmer. Wie meine Mutter es jemals geschafft hat, im selben Zimmer mit ihm zu schlafen, ist eine der vielen Fragen, die ich meiner Mutter gern gestellt hätte, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, sie kennen zu lernen.