Die junge Frau zog den Schal über ihr Gesicht und brach in Tränen aus. Das Kind, das auf dem Schoß des Mannes saß, begann ebenfalls zu weinen. Das Gesicht des Mannes war so blass geworden wie der Mond, der über uns schwebte. Er sagte Karim, er solle »den Herrn Soldaten Sahib« bitten, Erbarmen mit ihnen zu haben, vielleicht habe auch er eine Schwester oder eine Mutter, vielleicht habe auch er eine Frau. Der Russe hörte sich an, was Karim zu sagen hatte, und kläffte ein paar Worte.
»Das ist der Preis, den er fordert, um uns passieren zu lassen«, erklärte Karim. Er brachte es nicht fertig, dem Ehemann in die Augen zu sehen.
»Aber wir haben doch schon eine ziemlich große Summe bezahlt. Er bekommt eine Menge Geld«, sagte der Ehemann. Karim und der russische Soldat unterhielten sich wieder. »Er sagt… er sagt, dass jeder Preis auch eine Steuer hat.«
Das war der Moment, als Baba sich erhob. Nun war ich an der Reihe, seinen Oberschenkel zu umklammern, aber Baba schüttelte meine Hand ab und zog sein Bein weg. Als er stand, war das Mondlicht verschwunden. »Ich möchte, dass du diesen Mann etwas fragst«, sagte Baba. Er sprach die Worte zu Karim, richtete seinen Blick dabei aber auf den russischen Soldaten. »Frag ihn, ob er keine Scham besitzt.«
Sie wechselten einige Worte. »Er sagt, dass wir uns im Krieg befinden. Und im Krieg gebe es keine Scham.«
»Sag ihm, dass er sich da irrt. Krieg bedeutet nicht, dass wir keinen Anstand mehr haben können. Er fordert ihn sogar, mehr noch als in Kriegszeiten.«
Musst du immer den Helden spielen?, dachte ich mit pochendem Herzen. Kannst du es nicht einmal sein lassen? Aber ich wusste, dass er das nicht konnte — es lag einfach in seiner Natur, so zu handeln. Das Problem war nur, dass uns dieser Wesenszug alle umbringen würde.
Als der russische Soldat etwas zu Karim sagte, umspielte ein Lächeln seine Lippen. »Aga Sahib«, sagte Karim, »diese Roussi sind nicht wie wir. Respekt oder Ehre sind ihnen kein Begriff.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagt, dass es ihm genauso viel Vergnügen bereiten wird, Ihnen eine Kugel in den Kopf zu jagen, wie…« Karim verstummte, nickte aber zu der jungen Frau hinüber, die die Aufmerksamkeit des Wachpostens geweckt hatte. Der Soldat warf die halb gerauchte Zigarette weg und zog seine Pistole aus dem Halfter. Hier also wird Baba sterben, dachte ich. Hier wird es passieren. Ich sprach ein stilles Gebet, das ich in der Schule gelernt hatte.
»Sag ihm, dass ich mich lieber von tausend seiner Kugeln durchlöchern lasse, als eine solche Unanständigkeit zu dulden«, erklärte Baba. Meine Gedanken kehrten zu jenem Wintertag vor sechs Jahren zurück. Wie ich hinter dieser Ecke verborgen in die Gasse hineinspähte. Kamal und Wali, die Hassan am Boden niederhielten. Assefs Gesäßmuskeln, die sich immer wieder anspannten, seine Hüften, die immer wieder vorwärts stießen. Was für ein erbärmlicher Held ich damals gewesen war, hatte mir Sorgen um den Drachen gemacht. Manchmal fragte ich mich, ob ich wirklich Babas Sohn war.
Der Russe mit dem Bulldoggen-Gesicht hob die Pistole.
»Baba, so setz dich doch bitte hin«, sagte ich und zog an seinem Ärmel. »Ich glaube, er will dich wirklich erschießen.«
Baba schlug meine Hand weg. »Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?«, fuhr er mich an. Dann wandte er sich wieder dem grinsenden Soldaten zu. »Sag ihm, dass er mich besser mit diesem ersten Schuss erwischen soll, denn wenn ich nicht zu Boden gehe, werde ich ihn in Stücke reißen, verdammt sei sein Vater!«
Das Grinsen des russischen Soldaten erstarb auch dann nicht, als er die Übersetzung vernahm. Er entsicherte seine Waffe. Richtete den Lauf auf Babas Brust. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und ich vergrub mein Gesicht in den Händen.
Der Schuss ging los.
Das war es also. Ich bin achtzehn und allein. Ich habe niemanden mehr auf der Welt. Baba ist tot, und ich muss ihn begraben. Wo soll ich ihn begraben? Wo soll ich danach hin?
Aber meine sich überschlagenden Gedanken kamen zum Stillstand, als ich vorsichtig die Lider öffnete und Baba immer noch an derselben Stelle stand. Ich erblickte einen zweiten russischen Soldaten bei den anderen. Aus der Mündung seiner nach oben gerichteten Waffe stieg Rauch. Der Soldat, der vorgehabt hatte, Baba zu erschießen, hatte seine Waffe schon wieder in den Halfter gesteckt. Er scharrte mit den Füßen. Mir war noch nie so sehr nach Weinen und Lachen zugleich gewesen.
Der zweite russische Soldat, grauhaarig und beleibt, sprach in gebrochenem Farsi mit uns. Er entschuldigte sich für das Verhalten seines Kameraden. »Russland schickt sie hierher, damit sie kämpfen«, sagte er. »Aber es sind doch noch Kinder, und wenn sie hierher kommen, entdecken sie die Verlockungen der Drogen.« Er warf dem jungen Soldaten den reuevollen Blick eines Vaters zu, den sein ungezogener Sohn zur Verzweiflung treibt. »Der hier ist jetzt den Drogen verfallen. Ich versuche ihn zurückzuhalten, aber…« Er winkte uns fort.
Wenige Sekunden später fuhren wir weiter. Ich hörte ein Lachen und dann die nuschelige, keinen Ton treffende Stimme des ersten Soldaten, der wieder das alte Hochzeitslied sang.
Wir fuhren ungefähr eine Viertelstunde, in der niemand ein Wort sprach, bis der Ehemann der jungen Frau plötzlich aufstand und ich Zeuge von etwas wurde, was schon viele andere vor ihm getan hatten: Er küsste Babas Hand.
Toor hatte Pech gehabt. Hatte ich das nicht bei dieser Unterhaltung in Mahipar aufgeschnappt?
Wir kamen eine Stunde vor Sonnenaufgang in Jalalabad an. Karim geleitete uns rasch aus dem Lastwagen in ein Haus an der Kreuzung zweier unbefestigter Straßen, die von flachen, einstöckigen Häusern, Akazien und geschlossenen Läden gesäumt wurden. Ich schlug den Kragen meines Mantels gegen die Kälte in die Höhe, als wir, unsere Habseligkeiten mitschleppend, zum Haus hinübereilten. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an den Geruch von Rettich.
Als wir alle in dem schwach beleuchteten leeren Wohnzimmer standen, schloss Karim die Haustür von innen ab und zog die zerlumpten Tücher, die als Gardinen dienten, vor die Fenster. Dann atmete er einmal tief durch und eröffnete uns die schlechten Nachrichten: Sein Bruder Toor konnte uns nicht nach Peshawar bringen. Wie es schien, war der Motor seines Lastwagens in der letzten Woche kaputtgegangen, und Toor wartete immer noch auf die Ersatzteile.
»Letzte Woche?«, rief jemand. »Wenn Sie das gewusst haben, warum haben Sie uns denn dann hierher gebracht?«
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine heftige Bewegung. Dann flitzte etwas Verschwommenes quer durch das Zimmer, und das Nächste, was ich sah, war Karim, der an die Wand gepresst dahing, und seine Füße, die in Sandalen steckten, baumelten ein paar Zentimeter über dem Boden. Und um seinen Hals lagen Babas Hände.
»Ich weiß, warum«, schnauzte Baba. »Weil er das Geld für seinen Teil der Strecke kassiert hat. Und mehr hat ihn nicht interessiert.« Karim gab kehlige, erstickte Laute von sich. Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel.
»Lassen Sie ihn herunter, Aga, Sie bringen ihn ja um«, sagte einer der Passagiere.
»Genau das habe ich vor«, erklärte Baba. Was niemand der anderen im Raum wusste, war, dass Baba nicht scherzte. Karim lief rot an und begann mit den Beinen zu zucken. Baba würgte ihn weiter, bis ihn die junge Mutter, auf die es der russische Soldat abgesehen hatte, anflehte, von ihm abzulassen.