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Ende der 60er-Jahre, als ich fünf oder sechs war, beschloss Baba, ein Waisenhaus zu bauen. Ich hörte die Geschichte von Rahim Khan. Er erzählte mir, dass Baba die Blaupausen selbst gezeichnet habe, obwohl er überhaupt keine Erfahrung auf dem Gebiet der Architektur besaß. Skeptiker hatten ihn gedrängt, mir dieser Tollheit aufzuhören und einen Architekten zu beauftragen. Natürlich hatte sich Baba geweigert, und alle hatten angesichts seiner Sturheit die Köpfe geschüttelt. Doch Baba hatte Erfolg, und so schüttelten sie schon bald angesichts seines Triumphes die Köpfe. Baba bezahlte die Errichtung des zweistöckigen Waisenhauses an der Jadeh Maywand — einer der Hauptstraßen Kabuls, südlich des Kabul-Flusses — aus eigener Tasche. Rahim Khan erzählte mir, dass Baba das ganze Projekt allein finanzierte, die Löhne der Ingenieure, Elektriker, Klempner, der Arbeiter und nicht zu vergessen der städtischen Beamten, deren »Schnurrbärte geölt werden mussten«, eingeschlossen.

Der Bau des Waisenhauses dauerte drei Jahre. Ich war inzwischen acht. Ich erinnere mich noch an den Tag vor der Eröffnung, als Baba mich zum Ghargha-See mitnahm, der einige Kilometer nördlich von Kabul liegt. Er trug mir auf, Hassan zu holen, damit er auch mitfahren konnte, doch ich log und behauptete, dass Hassan Durchfall habe. Ich wollte Baba für mich allein haben. Und außerdem hatte es Hassan, als wir einmal gemeinsam am Ghargha-See waren und Steine über das Wasser hüpfen ließen, geschafft, seinen Stein achtmal springen zu lassen. Meine Bestleistung war fünfmal gewesen. Baba war damals dabei gewesen, hatte uns zugesehen und Hassan auf den Rücken geklopft. Sogar den Arm um ihn gelegt.

Wir saßen an einem Picknicktisch am Ufer des Sees, nur Baba und ich, und aßen hart gekochte Hier mit Kofta-Broten — in naan gerollte Fleischklöße mit sauren Gurken. Das Wasser war von einem tiefen Blau, und das Sonnenlicht glitzerte auf der glasklaren Oberfläche. Freitags herrschte reges Treiben am See, viele Familien kamen hierher, um einen Tag in der Sonne zu genießen. Aber es war Mittwoch, und so waren nur Baba und ich da und außer uns noch zwei langhaarige, bärtige Touristen — Hippies nannte man sie wohl, so hatte ich gehört. Sie saßen mit Angelruten in den Händen auf dem Steg und ließen die Beine ins Wasser baumeln. Ich fragte Baba, warum sie ihre Haare so lang wachsen ließen, aber Baba grunzte nur, antwortete nicht. Er bereitete seine Rede für den nächsten Tag vor, blätterte durch ein Chaos handgeschriebener Seiten und machte sich hin und wieder Notizen mit einem Bleistift. Ich biss in mein Ei und fragte Baba, ob es stimme, was ein Junge in der Schule erzählt habe, dass man nämlich, wenn man ein Stück Eierschale gegessen habe, es wieder auspinkeln müsse. Baba grunzte wieder.

Ich nahm einen Bissen von meinem Brot. Einer der Touristen mit den gelbblonden Haaren lachte und schlug dem anderen auf den Rücken. In der Ferne, auf der anderen Seite des Sees, rumpelte ein Lastwagen auf dem Hügel um eine Kurve. Sonnenlicht funkelte in seinem Außenspiegel.

»Ich glaube, ich habe saratan«, sagte ich. Krebs. Baba hob den Kopf von den Seiten, die in der leichten Brise flatterten. Sagte mir, ich solle das Sodawasser selbst holen, ich müsse nichts weiter tun, als in den Kofferraum des Wagens zu schauen.

Am nächsten Tag fehlte es draußen vor dem Waisenhaus an Stühlen. Eine Menge Leute mussten stehen, um sich die Eröffnungsfeierlichkeiten anzusehen. Es war ein windiger Tag, und ich saß hinter Baba auf dem kleinen Podest direkt vor dem Haupteingang des neuen Gebäudes. Baba trug einen grünen Anzug und einen Hut aus Karakulfell. Mitten in seiner Rede blies ihm der Wind den Hut vom Kopf, und alle lachten. Er bedeutete mir, den Hut für ihn festzuhalten, und das tat ich nur allzu gern, denn so konnte jeder sehen, dass er mein Vater war, mein Baba. Er wandte sich wieder dem Mikrofon zu und erklärte, er hoffe, dass das Gebäude stabiler sei als sein Hut, und wieder lachten alle. Als Baba seine Rede beendet hatte, standen die Leute auf und klatschten. Sie klatschten lange Zeit. Danach schüttelten sie ihm die Hand. Einige von ihnen zausten mir das Haar und schüttelten auch mir die Hand. Ich war so stolz auf Baba, auf uns beide.

Doch trotz Babas Erfolgen zweifelten die Leute immer an ihm. Sie erklärten ihm, dass es ihm nicht im Blut liege, ein Geschäft zu führen, er solle lieber Jura studieren wie sein Vater. Also bewies Baba ihnen, dass sie Unrecht hatten, indem er nicht nur sein eigenes Geschäft leitete, sondern überdies einer der reichsten Händler Kabuls wurde. Baba und Rahim Khan bauten ein unglaublich erfolgreiches Teppichexport-Unternehmen auf. Außerdem gehörten ihnen zwei Apotheken und ein Restaurant.

Als die Leute spotteten, dass Baba niemals eine gute Partie machen würde — schließlich war er nicht von königlichem Blut —, heiratete er meine Mutter, Sofia Akrami, eine hochgebildete Frau, die allgemein als eine von Kabuls geachtetsten, schönsten und tugendhaftesten Damen galt. Sie lehrte nicht nur klassische Farsi-Literatur an der Universität, sondern war außerdem mit der königlichen Familie verwandt, eine Tatsache, die mein Vater den Skeptikern unter die Nase rieb, indem er sie »meine Prinzessin« nannte, wann immer er von ihr sprach.

Mit Ausnahme von mir formte sich mein Vater die Welt um sich herum ganz nach seinem Geschmack. Das Problem daran war natürlich, dass Baba die Welt in Schwarz und Weiß sah. Und er entschied, was Schwarz war und was Weiß. Man kann keinen Menschen, der auf eine solche Weise lebt, lieben, ohne ihn zugleich zu fürchten. Ihn sogar ein klein wenig zu hassen.

Als ich in die fünfte Klasse der alten Istiqlal-Mittelschule ging, hatten wir einen Mullah, der uns den Islam lehrte. Sein Name war Mullah Fatiullah Khan, ein kleiner, stämmiger Mann mit einem Gesicht voller Aknenarben und einer barschen Stimme. Er hielt uns einen Vortrag über die Tugenden der zakat, der religiösen Abgabe, und die Pflicht der hadj, der Pilgerfahrt nach Mekka, er lehrte uns all die Feinheiten zur Verrichtung der fünf täglichen namaz-Gebcte und ließ uns Verse aus dem Koran auswendig lernen — und obwohl er die Worte niemals für uns übersetzte, betonte er dennoch, manchmal mit Hilfe einer Weidenrute, dass wir die arabischen Wörter richtig aussprechen müssten, damit uns Gott besser verstehen könne. Er erklärte uns eines Tages, dass der Islam das Trinken von Alkohol als eine schreckliche Sünde erachte; die, die tranken, würden für ihre Sünden am Tag des Qiyamat, des Jüngsten Gerichts, Rechenschaft ablegen müssen. In jenen Tagen war das Trinken von Alkohol in Kabul recht verbreitet. Niemand wurde deshalb öffentlich ausgepeitscht, aber die Afghanen, die tranken, taten dies aus Rücksichtnahme nicht in aller Öffentlichkeit. Die Leute kauften sich ihren Scotch in besonderen »Apotheken« als »Medizin« in braunen Papiertüten, die sie sogleich zwischen ihren Kleidern verbargen, um beim Verlassen des Ladens dennoch verstohlene, missbilligende Blicke derjenigen auf sich zu ziehen, die wussten, in welchem Ruf das jeweilige Geschäft stand.

Wir waren gerade oben in Babas Arbeitszimmer, dem Rauchzimmer, als ich ihm erzählte, was uns der Mullah Fatiullah Khan im Unterricht beigebracht hatte. Baba goss sich an der Bar, die er in der Ecke des Raums hatte einbauen lassen, einen Whisky ein. Er hörte zu, nickte und nahm einen Schluck von seinem Drink. Dann ließ er sich auf dem Ledersofa nieder, stellte den Drink ab und hob mich auf seinen Schoß. Es kam mir vor, als würde ich auf zwei Baumstämmen sitzen. Er atmete tief ein und durch die Nase wieder aus, wobei die Luft eine Ewigkeit durch seinen Schnurrbart zu zischen schien. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn umarmen oder vor lauter Todesangst von seinem Schoß herunterspringen sollte.