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Als ich neun war, nahm mich Baba zu dem jährlichen Buzkashi-Turnier mit, das am Frühlingsanfang, am Neujahrstag, stattfand. Buzkashi war und ist die nationale Leidenschaft Afghanistans. Ein chapandaz, ein überaus geschickter Reiter, der für gewöhnlich von reichen An hängern des Turniers gefördert wird, muss sich mitten im Gedränge einen Ziegen- oder Rinderkadaver greifen, ihn auf sein Pferd heben und dann in vollem Galopp durch das Stadion reiten und den Kadaver in einen Zielkreis fallen lassen, während ihn eine Mannschaft aus weiteren chapandaz jagt und alles in ihrer Macht Stehende tut — treten, kratzen, peitschen, schlagen —, um ihm den Kadaver zu entreißen. Ich erinnere mich, wie die Menge an jenem Tag vor Begeisterung brüllte, als die Reiter unten auf dem Feld ihre Kampfschreie ausstießen und in einer Staubwolke um den Kadaver rangelten. Die Erde erzitterte unter dem Dröhnen der Hufe. Wir sahen von unseren Plätzen im oberen Teil der Zuschauertribüne zu, wie die Reiter in vollem Galopp, während ihren Pferden der Schaum um die Mäuler spritzte, johlend und schreiend an uns vorüberstampften.

Irgendwann streckte Baba den Arm aus und zeigte auf jemanden. »Amir, siehst du den Mann da, der da drüben inmitten der anderen Männer sitzt?«

Das tat ich.

»Das ist Henry Kissinger.«

»Oh«, sagte ich. Ich wusste nicht, wer Henry Kissinger war, und ich hätte Baba wohl nach ihm gefragt. Aber in dem Moment sah ich voller Entsetzen, wie einer der chapandaz vom Pferd fiel und unter einer Vielzahl von Hufen zertrampelt wurde. Sein Körper wurde im wilden Gedränge hin und her geschleudert wie eine Lumpenpuppe und blieb schließlich nach einer letzten Drehung liegen, während die Meute weiterzog. Er zuckte noch einmal, dann rührte er sich nicht mehr, die Beine in einem unnatürlichen Winkel verdreht, während langsam eine Blutlache im Sand versickerte.

Ich brach in Tränen aus. Ich weinte auf dem gesamten Nachhauseweg. Ich weiß noch, wie sich Babas Hände um das Lenkrad klammerten. Sie packten es, und dann lockerte sich ihr Griff wieder, um kurz darauf erneut fest zuzupacken. Aber am deutlichsten stehen mir immer noch Babas tapfere Versuche vor Augen, den angewiderten Ausdruck auf seinem Gesicht zu verbergen, während er den Wagen schweigend nach Hause fuhr.

Später am selben Abend, als ich am Arbeitszimmer meines Vaters vorbeiging, hörte ich ihn mit Rahim Khan reden. Ich presste mein Ohr an die geschlossene Tür.

»…dankbar sein, dass er gesund ist«, sagte Rahim Khan.

»Ich weiß, ich weiß. Aber er vergräbt sich ständig in seinen Büchern oder schlurft traumverloren durch das Haus.«

»Ja und?«

»Ich war nie so.« Baba klang frustriert, beinahe wütend.

Rahim Khan lachte. »Kinder sind doch nicht wie Malbücher. Du kannst sie nicht mit deinen Lieblingsfarben ausmalen.«

»Ich sage dir«, fuhr Baba fort, »ich war ganz und gar nicht so, und auch keines der Kinder, mit denen ich groß geworden bin.«

»Weißt du, manchmal bist du der egozentrischste Mann, den ich kenne«, erklärte Rahim Khan. Er war der einzige Mensch, den ich kannte, der so etwas zu Baba sagen durfte.

»Damit hat das nichts zu tun.«

»Ach, nein?«

»Nein.«

»Sondern?«

Ich hörte, wie das Leder von Babas Sessel knarrte, als er sich darin bewegte. Ich schloss die Augen und presste mein Ohr noch fester an die Tür, wollte alles hören und auch wieder nicht. »Manchmal schaue ich aus diesem Fenster und sehe ihn auf der Straße mit Nachbarjungen spielen. Ich sehe, wie sie ihn herumschubsen, ihm sein Spielzeug wegnehmen, ihm einen Stoß oder einen Schlag versetzen. Und er wehrt sich einfach nicht. Nie. Er… er lässt bloß den Kopf hängen und…«

»Na schön, er ist also kein gewalttätiger Mensch.«

»Das meine ich nicht, Rahim, und das weißt du auch«, schoss Baba zurück. »Dem Jungen fehlt einfach etwas.«

»Ja, ein gemeiner Zug.«

»Selbstverteidigung hat nichts mit Gemeinheit zu tun. Weißt du, was passiert, wenn ihn die Nachbarjungen hänseln? Hassan geht dazwischen und vertreibt sie. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Immer wieder. Und wenn die beiden nach Hause kommen und ich zu ihm sage ›Wie ist Hassan denn an die Schramme in seinem Gesicht gekommen?‹, antwortet er: ›Er ist hingefallen.‹ Lass dir gesagt sein, Rahim, dem Jungen fehlt etwas.«

»Er muss erst noch seinen Weg finden, das ist alles«, sagte Rahim Khan.

»Und wohin soll der führen?«, fragte Baba. »Ein Junge, der nicht für sich selbst eintritt, wird zu einem Mann, der für nichts eintritt.«

»Du vereinfachst die Dinge wieder einmal zu sehr.«

»Das glaube ich nicht.«

»Du bist sauer, weil du Angst davor hast, dass er niemals dein Geschäft übernehmen wird.«

»Und wer vereinfacht die Dinge jetzt?«, erwiderte Baba. »Hör zu, ich weiß, dass da eine Zuneigung zwischen euch beiden ist, und das freut mich. Ich bin neidisch, aber es freut mich. Das ist mein Ernst. Er braucht jemanden, der… ihn versteht, denn ich tue es weiß Gott nicht. Aber etwas an Amir beunruhigt mich auf eine Weise, die ich nicht auszudrücken vermag. Es ist ganz so, als ob…« Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er nach den richtigen Worten suchte. Er senkte die Stimme, aber ich hörte ihn trotzdem. »Wenn ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, wie der Arzt ihn aus meiner Frau herausgezogen hat, dann hätte ich niemals geglaubt, dass er mein Sohn ist.«

Am nächsten Morgen, als er mir das Frühstück zubereitete, fragte mich Hassan, ob mich etwas bedrücke. Ich schnauzte ihn an, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.

Ob Rahim Khan das mit dem fehlenden gemeinen Zug wohl auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge dieser Reaktion geworden wäre?

4

1933, in dem Jahr, als Baba geboren wurde — das gleiche Jahr, in dem Zahir Shah seine vierzigjährige Herrschaft über Afghanistan antrat —, setzten sich zwei Brüder, junge Männer aus einer reichen und angesehenen Kabuler Familie, ans Steuer des Ford Roadster ihres Vaters. Mit Haschisch bekifft und mast mit französischem Wein, überfuhren sie auf der Straße nach Paghman einen Mann und seine Frau, die vom Volk der Hazara stammten, und töteten sie. Die Polizei brachte die ein wenig zerknirschten jungen Männer und den fünfjährigen Sohn des Ehe paars — nun ein Waisenkind — vor meinen Großvater, der ein hoch angesehener Richter war und einen untadeligen Ruf genoss. Nachdem er sich die Darstellung der Brüder und die flehentlichen Worte ihres Vaters angehört hatte, befahl mein Großvater den beiden jungen Männern, sofort nach Kandahar zu gehen und sich für ein Jahr zur Armee zu melden — obwohl es ihre Familie irgendwie geschafft hatte, sie von der Einberufung befreien zu lassen. Ihr Vater widersprach, aber nicht allzu heftig, und am Ende stimmten alle darin überein, dass die Strafe vielleicht hart, aber gerecht war. Und was das Waisenkind anging, so nahm mein Großvater es in seinen Haushalt auf und wies die Dienstboten an, den Jungen zu erziehen und nett zu ihm zu sein. Dieser Junge war Ali.