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»Die Moschee!«, sagte ich. »Die große Moschee.« Ich erinnerte mich an Suhrabs Reaktion auf dieses Bauwerk, als wir daran vorbeigefahren waren, wie er sich aus dem Fenster gelehnt hatte, um es zu bestaunen.

»Die Shah Faisal?«

»Ja. Könnten Sie mich dorthin führen?«

»Es ist die größte Moschee der Welt, wussten Sie das?«, fragte er.

»Nein, aber…«

»Allein der Vorplatz fasst 40000 Menschen.«

»Könnten Sie mich hinführen?«

»Ist nur einen Kilometer entfernt«, sagte er, löste sich aber bereits vom Schalter.

»Ich zahle für die Fahrt«, sagte ich.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Warten Sie einen Augenblick.« Er verschwand in einem angrenzenden Zimmer, kehrte mit einer anderen Brille und einem Schlüsselbund in der Hand zurück, gefolgt von einer kleinen, rundlichen Frau in orangefarbenem Sari. Sie nahm seinen Platz hinterm Schalter ein. »Ich will kein Geld«, sagte er prustend. »Ich helfe Ihnen, weil ich selbst Vater bin.«

Ich war darauf gefasst, den ganzen Tag kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, und sah mich schon bei der Polizei unter Mr. Fayyaz’ tadelnden Blicken eine Beschreibung von Suhrab abgeben, meinte bereits die müde, gelangweilte Stimme des Beamten zu hören, der die obligatorischen Fragen stellte. Und in Zwischentönen würde wahrscheinlich eine andere Frage anklingen: Wen zum Teufel interessiert ein weiteres totes afghanisches Kind?

Doch wir fanden ihn; rund hundert Schritt von der Moschee entfernt, hockte er auf einer Raseninsel inmitten eines Parkplatzes, der zur Hälfte mit Autos gefüllt war. Mr. Fayyaz hielt neben der Insel an und ließ mich aussteigen. »Ich muss wieder zum Hotel«, sagte er.

»In Ordnung. Wir gehen zu Fuß zurück«, sagte ich. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Fayyaz. Wirklich.«

Er beugte sich über den Vordersitz, als ich ausstieg. »Darf ich Ihnen etwas sagen?«

»Sicher.«

Im Halbdunkel leuchteten mir die Brillengläser entgegen, in denen sich das abnehmende Licht spiegelte. »Also wirklich, ihr Afghanen… ihr seid allesamt ziemlich leichtsinnig.«

Ich war müde und hatte Schmerzen, ganz besonders am Kiefer. Und diese verdammten Wunden in der Brust und am Bauch fühlten sich an wie Stacheldraht unter der Haut. Trotzdem fing ich unwillkürlich zu lachen an.

»Was… was habe ich…«, sagte Mr. Fayyaz, doch ich konnte nicht mehr an mich halten und stieß prustende Lachsalven durch meine verdrahteten Zähne.

»Verrücktes Volk«, brummelte er und fuhr davon.

»Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingeigt«, sagte ich. Ich setzte mich neben Suhrab, stöhnend vor Schmerzen, als ich den Rumpf beugte. Suhrab war ganz in die Betrachtung der Moschee versunken. Sie sah aus wie ein riesiges Zelt. Auf dem Parkplatz herrschte reger Verkehr; in Weiß gekleidete Gläubige kamen und gingen. Wir saßen schweigend beieinander. Ich lehnte an einem Baumstamm, Suhrab hielt die angezogenen Knie mit den Armen umschlungen. Wir lauschten der Aufforderung zum Gebet, sahen die vielen hundert Lichter des Gotteshauses aufleuchten, als die Dunkelheit anbrach. Die Moschee glitzerte wie ein Diamant. Sie brachte den Himmel und Suhrabs Gesicht zum Leuchten.

»Sind Sie jemals in Mazar-e-Sharif gewesen?«, fragte Suhrab, das Kinn auf eines der Knie gestützt.

»Vor langer Zeit. Viel ist mir davon nicht in Erinnerung geblieben.«

»Vater hat mich einmal dahin mitgenommen. Mutter und Sasa waren auch dabei. Auf dem Basar hat mir Vater einen Affen gekauft. Keinen lebendigen, sondern einen, den man aufblasen konnte. Er war braun und trug einen Schlips.«

»So einen hatte ich früher auch einmal.«

»Wir haben die Blaue Moschee besucht, das Grab von Hazrat Ali«, fuhr Suhrab fort. »Draußen vor der masjid gab es viele, viele Tauben. Die hatten kaum Angst. Sie wagten sich ganz dicht an uns heran. Sasa gab mir kleine Stückchen naan, und ich habe die Tauben gefüttert. Das war lustig, all die gurrenden Tauben um mich herum.«

»Du vermisst deine Eltern sehr, nicht wahr?«, sagte ich. Ich fragte mich, ob er mit angesehen hatte, wie sie von den Taliban hinaus auf die Straße gezerrt worden waren, hoffte, dass ihm das erspart geblieben war.

»Vermissen Sie Ihre Eltern?«, fragte er.

»Ob ich meine Eltern vermisse? Meine Mutter habe ich nicht gekannt. Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben. Ja, ich vermisse ihn. Manchmal sehr.«

»Wissen Sie noch, wie er ausgesehen hat?«

Ich dachte an Babas kräftigen Nacken, die schwarzen Augen, das krause braune Haar. Auf seinem Schoß zu sitzen war, als ritte ich auf zwei Baumstämmen.

»Ja, ich weiß noch, wie er aussah«, antwortete ich. »Ich weiß sogar noch, wie er gerochen hat.«

»Bei mir ist es so, dass ich mehr und mehr vergesse«, sagte Suhrab. »Ist das schlimm?«

»Nein«, erwiderte ich. »Das bringt die Zeit so mit sich.« Mir fiel etwas ein. Ich griff in meine Manteltasche und holte die Polaroidaufnahme von Hassan und Suhrab hervor. »Hier«, sagte ich.

Er nahm das Foto, drehte es ins Eicht, das von der Moschee herüberleuchtete, und führte es ganz dicht vor seine Augen. Lange betrachtete er die Aufnahme. Ich dachte, dass er womöglich zu weinen begänne, doch ich täuschte mich. Er hielt das Bild in den Händen und fuhr mit dem Daumen über die Oberfläche. Mir fiel eine Zeile ein, die ich irgendwo einmal gelesen oder aufgeschnappt hatte: Es gibt viele Kinder in Afghanistan, aber wenig Kindheit. Nach einer Weile reichte er mir das Foto zurück.

»Behalt es«, sagte ich. »Es gehört dir.«

»Danke.« Er warf noch einen Blick auf das Foto und steckte es dann in seine Westentasche. Ein Pferdekarren rollte klappernd über den Parkplatz. Die Schellen am Halsband des Pferdes läuteten bei jedem Schritt. »Ich habe in letzter Zeit viel über Moscheen nachgedacht«, sagte Suhrab.

»Ach ja? Inwiefern?«

Er zuckte mit den Achseln. »Einfach nur so.« Er hob das Gesicht und sah mich an. Jetzt hatte er tatsächlich zu weinen angefangen. »Darf ich Sie etwas fragen, Amir Aga?«

»Nur zu.«

»Wird Allah mich…« Er stockte schluchzend. »Wird Allah mich in die Hölle stecken für das, was ich diesem Mann angetan habe?«

Ich streckte die Hand nach ihm aus. Er zuckte zurück, und ich ließ von ihm ab. »Nay. Gewiss nicht«, antwortete ich. Gern hätte ich ihn an mich gezogen, in meinen Armen gehalten und ihm gesagt, dass nicht er Böses getan habe, dass vielmehr ihm Böses widerfahren sei.

Er verzog das Gesicht, hatte sichtlich Mühe, Fassung zu bewahren. »Vater hat immer gesagt, dass es auch falsch wäre, bösen Menschen zu schaden. Weil sie es nicht besser wissen und weil sie manchmal auch gut werden.«

»Nicht immer, Suhrab.«

Er sah mich fragend an.

»Ich kenne den Mann, der dir wehgetan hat, schon seit vielen Jahren«, erklärte ich. »Vermutlich hast du das aus unserer Unterhaltung herausgehört. Er… er hat mich einmal so bedroht, dass ich große Angst bekam und mir nicht zu helfen wusste, aber dein Vater hat mich gerettet. Wir waren damals so alt wie du jetzt. Dein Vater war sehr tapfer. Sooft ich in Not war, ist er für mich eingestanden. Eines Tages hat dieser schlechte Mann, der es eigentlich auf mich abgesehen hatte, deinen Vater geschlagen und ihm sehr, sehr Schlimmes zugefügt. Und ich… ich konnte ihm nicht helfen, so wie er mir geholfen hätte.«

»Warum wollten andere meinem Vater wehtun?«, fragte Suhrab mit dünner Stimme. »Er war doch nie zu irgendjemandem gemein.«

»Du hast Recht. Dein Vater war ein guter Mann. Aber das ist es ja gerade, das versuche ich dir zu erklären, Suhrab jan. Dass es in dieser Welt Menschen gibt, die schlecht sind und schlecht bleiben. Manchmal muss man solchen Menschen die Stirn bieten. Was du diesem Mann getan hast, hätte ich schon damals vor vielen Jahren tun müssen. Er hat es nicht anders verdient. Oder doch, im Grunde hätte er noch Schlimmeres verdient.«