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»Welches?«

»Kretin.«

»Du weißt nicht, was es bedeutet?«, fragte ich grinsend.

»Nein, Amir Aga.«

»Aber es ist doch ein so geläufiges Wort!«

»Dennoch kenne ich es nicht.« Falls er die Häme meiner Stimme spürte, so verriet sein lächelndes Gesicht nichts davon.

»Also, jeder in meiner Schule weiß, was es bedeutet«, sagte ich. »Lass mal sehen. Kretin. Das bezeichnet einen Menschen, der klug und intelligent ist. Ich werde dir einen Beispielsatz geben. Wenn es um Wörter geht, dann ist Hassan ein Kretin.«

»Aaah«, sagte er nickend.

Später hatte ich deswegen immer Schuldgefühle. Die versuchte ich zu besänftigen, indem ich ihm eins meiner alten Hemden oder ein kaputtes Spielzeug schenkte. Ich versuchte mir einzureden, dass das als Wiedergutmachung für einen harmlosen Streich ausreichte.

Hassans absolutes Lieblingsbuch war das Shahname, ein aus dem zehnten Jahrhundert stammendes Epos, das von alten persischen Helden handelt. Er fand Gefallen an sämtlichen Kapiteln: die Schahs früherer Zeiten, Feridun, Zal und Rudabeh. Aber seine Lieblingsgeschichte — und zugleich auch die meine — fand sich in dem Kapitel über Rostem und Suhrab, das von dem großen Krieger Rostem und seinem leichtfüßigen Pferd Rakhsh handelt. Rostem bringt dem tapferen Suhrab im Kampf tödliche Verletzungen bei, um dann entdecken zu müssen, dass Suhrab sein verloren geglaubter Sohn ist. Von Schmerz und Kummer erfüllt, lauscht er den letzten Worten seines sterbenden Kindes:

Wenn du wirklich mein Vater bist, dann hast du dein Schwert mit dem Blut deines Sohnes befleckt. Und das hast du nur deinem Starrsinn zu verdanken. Denn ich habe versucht, in dir die Liebe zu wecken, habe dich angefleht, mir deinen Namen zu nennen, denn ich glaubte, in dir all die Züge zu erblicken, die mir meine Mutter geschildert hat. Doch ich wandte mich vergeblich an dein Herz, und nun ist es zu spät für eine Begegnung…

»Bitte lies es noch einmal, Amir Aga«, sagte Hassan dann. Manchmal stiegen ihm Tränen in die Augen, wenn ich ihm diese Zeilen vorlas, und ich fragte mich immer, um wen er wohl weinte — um den untröstlichen Rostem, der seine Kleider zerreißt und sein Haupt mit Asche bestreut, oder um den sterbenden Suhrab, der sich immer nur nach der Liebe seines Vaters gesehnt hat? Ich selbst vermochte die Tragödie nicht zu erkennen, die sich in Rostems Schicksal verbarg. Verspürten nicht alle Väter insgeheim ein Verlangen, ihre Söhne zu töten?

An einem Tag im Juli des Jahres 1973 spielte ich Hassan einen anderen Streich. Während ich ihm vorlas, wich ich plötzlich von der Geschichte ab, die ich gedruckt vor Augen hatte. Ich tat so, als würde ich weiter aus dem Buch vorlesen, blätterte auch regelmäßig die Seiten um, hatte aber den Text ganz und gar verlassen, den Verlauf der Geschichte selbst übernommen und erfand nun meine eigene. Hassan bemerkte dies natürlich nicht. Für ihn waren die Wörter auf einer Seite ein Wirrwarr von Zeichen, nicht zu entziffern, rätselhaft. Wörter waren geheime Zugänge, deren Schlüssel ich in der Hand hielt.

Als ich ihn hinterher fragte, wie ihm die Geschichte gefallen habe, da stieg ein Kichern in meiner Kehle auf, doch Hassan begann zu klatschen.

»Was machst du denn?«, fragte ich.

»Das war die beste Geschichte, die du mir seit langem vorgelesen hast«, sagte er, immer noch klatschend.

Ich lachte. »Wirklich?«

»Wirklich.«

»Faszinierend«, murmelte ich. Seine Reaktion kam für mich völlig unerwartet. »Bist du dir ganz sicher, Hassan?«

Er klatschte immer noch. »Es war großartig, Amir Aga. Liest du mir morgen noch mehr davon vor?«

»Faszinierend«, wiederholte ich ein wenig atemlos. Ich kam mir wie ein Mann vor, der in seinem eigenen Garten einen vergrabenen Schatz findet. Auf dem Weg den Hügel hinunter explodierten die Gedanken in meinem Kopf wie das Feuerwerk von Chaman. Die beste Geschichte, die du mir seit langem vorgelesen hast, hatte er gesagt, und ich hatte ihm schon eine Menge Geschichten vorgelesen. Hassan fragte mich etwas.

»Wie bitte?«, sagte ich.

»Was bedeutet ›faszinierend‹?«

Ich lachte. Packte ihn, zog ihn heftig in meine Arme und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Wofür war das denn?«, fragte er erstaunt und errötete.

Ich versetzte ihm einen freundschaftlichen Schubser. Lächelte. »Du bist ein Prinz, Hassan. Du bist ein Prinz, und ich liebe dich.«

An jenem Abend schrieb ich meine erste Kurzgeschichte. Ich brauchte eine halbe Stunde dafür. Es war eine düstere kleine Geschichte von einem Mann, der eine Zaubertasse findet und feststellt, dass sich seine Tränen in Perlen verwandeln, wenn er in die Tasse weint. Aber obwohl er immer arm gewesen ist, ist er doch ein glücklicher Mensch, der selten eine Träne vergießt. Also sucht er nach Wegen, um sich traurig zu machen, damit ihn seine Tränen zu einem reichen Mann werden lassen. Aber je mehr Perlen er anhäuft, desto größer wird seine Habsucht. Die Geschichte endet damit, dass der Mann mit einem Messer in der Hand auf einem Berg von Perlen sitzt und hilflos in die Tasse weint, während er den Leichnam seiner erstochenen Frau in den Armen hält.

An jenem Abend ging ich mit den beiden Blättern in der Hand, auf die ich die Geschichte geschrieben hatte, in Babas Rauchzimmer. Baba und Rahim Khan rauchten und tranken Weinbrand, als ich eintrat.

»Was ist, Amir?«, fragte Baba, der sich auf dem Sofa zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Blauer Rauch wirbelte um sein Gesicht. Sein stechender Blick ließ meine Kehle trocken werden. Ich räusperte mich und erklärte ihm, dass ich eine kleine Geschichte geschrieben hätte.

Baba nickte und schenkte mir ein dünnes Lächeln, das wenig mehr als gespieltes Interesse ausdrückte. »Na, das ist doch sehr schön, oder?«, sagte er. Mehr nicht. Und dann blickte er mich durch die Rauchwolke an. Ich stand dort gewiss kaum länger als eine Minute, aber bis zu diesem Tag ist es die längste Minute meines Lebens gewesen. Die Sekunden quälten sich dahin, jede einzelne von der nächsten durch eine Ewigkeit getrennt. Die Luft wurde schwül, feucht, beinahe fest. Ich atmete Ziegelsteine. Baba starrte mich bloß unverwandt an, ohne mich aufzufordern, vorzulesen, was ich geschrieben hatte.

Es war wie immer Rahim Khan, der mich rettete. Er streckte die Hand aus und schenkte mir ein Lächeln, das nichts Gespieltes an sich hatte. »Darf ich sie mir einmal ansehen, Amir jan? Ich würde sie sehr gern lesen.« Baba benutzte fast nie das Kosewort jan, wenn er mit mir sprach.

Baba zuckte mit den Schultern und stand auf. Er wirkte erleichtert, als sei auch er von Rahim Khan gerettet worden. »Ja, gib es nur Kaka Rahim. Ich gehe schon einmal, um mich fertig zu machen.« Und mit diesen Worten verließ er das Zimmer. An den meisten Tagen verehrte ich Baba mit einer Inbrunst, die ans Religiöse grenzte. Aber in dem Moment hätte ich mir am liebsten die Adern aufgeschnitten, um sein verfluchtes Blut aus meinem Körper fließen zu lassen.

Eine Stunde später, als sich der Abendhimmel verdunkelte, fuhren die beiden im Wagen meines Vaters davon, um auf eine Party zu gehen. Auf dem Weg nach draußen hockte sich Rahim Khan vor mich hin, reichte mir meine Geschichte und dazu noch ein gefaltetes Blatt Papier. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und er blinzelte mir zu. »Für dich. Lies es später.« Dann legte er eine kleine Pause ein, ehe er ein einziges Wort hinzufügte, das mich mehr ermutigte, mit meiner Schreiberei fortzufahren, als jedes Kompliment, das mir irgendwelche Lektoren jemals gemacht haben. Dieses Wort lautete bravo.