»Du solltest erst einmal die Straßen sehen«, sagte ich.
»Was ist mit denen?« Er hatte jetzt den Blick auf mich gerichtet. Die beiden Mullahs auf dem Bildschirm beratschlagten sich.
»Die sind so steil, dass man, wenn man bergauf fährt, nur Himmel und den Kühler des eigenen Autos sieht«, antwortete ich.
»Das hört sich ja schlimm an«, sagte er. Er drehte sich zu mir, kehrte dem Fernseher den Rücken zu und sah mich an.
»Man hat sich schnell daran gewöhnt.«
»Gibt es dort Schnee?«
»Nein, aber umso mehr Nebel. Hast du das Bild der roten Brücke noch vor Augen?«
»Ja.«
»Morgens hängt der Nebel manchmal so tief, dass nur noch die Spitzen der beiden Türme zu sehen sind.«
Der Junge war sichtlich beeindruckt. »Oh.«
»Suhrab?«
»Ja.«
»Hast du dir meine Frage noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«
Das Lächeln verschwand. Er wälzte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinterm Kopf. Die Mullahs kamen zu der Ansicht, dass Ayubs Sohn zur Hölle verdammt sei, wenn er seine Hosen so weit unten trüge. Das stünde so in der Haddith, behaupteten sie. »Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Suhrab.
»Und?«
»Es macht mir Angst.«
»Das ist nur verständlich«, sagte ich und schöpfte Hoffnung. »Ich bin sicher, dass du ganz schnell Englisch lernen, Freunde finden und dich eingewöhnen würdest…«
»Ich meine etwas anderes. Davor hätte ich auch Angst, aber…«
»Was meinst du denn?«
Er wandte sich mir wieder zu. Zog die Knie an. »Was, wenn Sie mich nicht mehr bei sich haben wollen? Wenn Ihre Frau mich nicht leiden kann?«
Ich mühte mich von meinem Bett und setzte mich zu ihm. »Dazu würde es nie kommen, Suhrab«, antwortete ich. »Niemals. Das verspreche ich. Vergiss nicht, du bist mein Neffe. Und Soraya jan ist eine gute Frau. Glaub mir, sie wird dich lieben. Auch das kann ich dir versprechen.« Ich wagte es, seine Hand zu ergreifen. Er verkrampfte sich ein wenig, ließ es aber zu, dass ich sie hielt.
»Ich will nicht noch einmal in ein Waisenhaus«, sagte er.
»Dazu wird es auch nie kommen. Du hast mein Wort darauf.« Ich nahm seine Hand in beide Hände. »Komm mit mir nach Hause.«
Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er sagte lange nichts. Dann drückte er meine Hand. Und er nickte. Er nickte.
Beim vierten Versuch kam die Verbindung zustande. Nach dem dritten Rufzeichen hob sie ab. »Hallo?« In Islamabad war es halb acht Uhr abends, zwölf Stunden später als in Kalifornien. Soraya müsste seit etwa einer Stunde auf sein und sich fertig machen für die Schule.
»Ich bin’s.« Ich saß aufrecht auf dem Bett und beobachtete Suhrab, der eingeschlafen war.
»Amir!« Es war fast ein Schrei. »Ist alles in Ordnung mit dir? Wo bist du?«
»In Pakistan.«
»Warum hast du nicht schon früher angerufen? Ich bin krank vor tashweesh! Meine Mutter betet jeden Tag und legt ein nazr ab.«
»Tut mir Leid, dass ich mich erst jetzt melde. Es geht mir wieder gut.« Ich hatte ihr gesagt, dass ich in einer, spätestens zwei Wochen wieder zu Hause sein würde.
Mittlerweile war ich schon fast einen Monat lang weg. Ich lächelte. »Und sag Khala Jamila, dass sie aufhören soll, Schafe umzubringen.«
»Was heißt ›wieder gut‹? Und was ist mit deiner Stimme?«
»Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut. Wirklich. Da ist einiges, was ich dir erzählen muss, was ich dir eigentlich schon längst hätte erzählen müssen, aber vorher möchte ich dir noch etwas anderes sagen.«
»Was?«, fragte sie leise, zaghaft.
»Ich werde nicht alleine zurückkommen, sondern einen Jungen mitbringen.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich will, dass wir ihn adoptieren.«
»Was?«
Ich warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Mir bleiben auf dieser dummen Telefonkarte nur siebenundfünfzig Minuten, und ich habe dir noch so viel zu erzählen. Setz dich erst mal hin.« Ich hörte, wie sie hastig einen Stuhl auf dem Holzboden zurechtrückte.
»Schieß los.«
Dann holte ich nach, was ich in fünfzehn Jahren Ehe versäumt hatte: Ich erzählte meiner Frau alles. Alles. Vor diesem Moment war mir immer Angst und Bange gewesen, doch jetzt, da ich ihr alles gestand, fühlte ich mich von einer Fast befreit. Soraya hatte vermutlich ganz ähnlich empfunden in der Nacht unserer khastegari, als sie mich über ihre Vergangenheit aufgeklärt hatte.
Als ich mit meiner Geschichte am Ende war, weinte sie.
»Was denkst du?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Amin Das war zu viel auf einmal.«
»Verstehe.«
Ich hörte, wie sie sich schneuzte. »Aber eins weiß ich: Du musst ihn mit nach Hause bringen.«
»Bist du dir sicher?«, fragte ich, lächelnd und mit geschlossenen Augen.
»Was für eine Frage«, entgegnete sie. »Amir, er ist dein qaom, er gehört zu deiner Familie, also ist er auch ein qaom von mir. Natürlich bin ich mir sicher. Du kannst ihn doch nicht auf der Straße zurücklassen.« Es blieb für eine Weile still in der Leitung. »Wie ist er?«
Ich warf einen Blick auf den Jungen. »Sehr lieb, auf seine ernste Art.«
»Ich bin sehr gespannt auf ihn, Amir.«
»Soraya?«
»Ja?«
»Dostet darum.« Ich liebe dich.
»Ich dich auch«, antwortete sie mit einem Lächeln in der Stimme. »Pass auf dich auf.«
»Das werde ich. Und sag deinen Eltern bitte nicht, wer er ist. Wenn sie es wissen müssen, sollten sie es von mir erfahren.«
»Einverstanden.« Wir legten auf.
Vor der amerikanischen Botschaft in Islamabad erstreckte sich eine fein säuberlich gepflegte Rasenfläche mit kreisrunden Blumenbeeten darin und einer Heckenumrandung, die mit dem Lineal gezogen zu sein schien. Das Gebäude selbst war wie viele andere Häuser in Islamabad: flach und weiß. Wir mussten etliche Straßensperren passieren und uns von drei verschiedenen Sicherheitsbeamten kontrollieren und durchsuchen lassen, nachdem die Drähte in meinem Mund den Alarm der Metalldetektoren ausgelöst hatten. Als wir schließlich, aus der Hitze kommend, die Vorhalle betraten, schlug mir die klimatisierte Luft wie ein Schwall Eiswasser entgegen. Die Empfangsdame, eine etwa 50-jährige, blonde Frau mit hagerem Gesicht, erkundigte sich lächelnd nach meinem Namen. Mit ihrer beigefarbenen Bluse und der schwarzen Hose war sie seit Wochen die erste Frau in meinem Umkreis, die weder Burkha noch shalwarkameez trug. Sie suchte meinen Namen auf der Anmeldeliste und tippte mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts auf den Schreibtisch. Als sie ihn gefunden hatte, forderte sie mich auf, Platz zu nehmen.
»Möchten Sie etwas trinken? Eine Limonade vielleicht?«, fragte sie.
»Nein, danke, für mich nicht«, antwortete ich.
»Und Ihr Sohn?«
»Wie bitte?«
»Wie steht’s mit dem hübschen jungen Mann?«, fragte sie und lächelte Suhrab zu.
»Oh. Das wäre nett, danke.«
Suhrab und ich setzten uns auf das schwarze Ledersofa neben der großen US-Fahne. Suhrab nahm eins der Magazine von dem gläsernen Beistelltisch und blätterte darin herum, ohne sich die Bilder genauer anzusehen.
»Was ist?«, fragte Suhrab.
»Wie bitte?«
»Warum lächeln Sie?«
»Ich habe an dich gedacht«, antwortete ich.
Er grinste irritiert und nahm ein zweites Magazin zur Hand, das er in weniger als dreißig Sekunden durchgeblättert hatte.
»Keine Sorge«, sagte ich und berührte ihn am Arm. »Diese Leute sind freundlich. Entspann dich.« Der gute Rat galt nicht zuletzt mir. Ich rutschte auf meinem Platz hin und her, löste die Schnürsenkel meiner Schuhe und schnürte sie wieder zu. Die Empfangsdame stellte ein großes eisgekühltes Glas Limonade auf dem Tischchen ab. »Zum Wohl.«