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»Alaykum salaam, Suhrab«, erwiderte Faisal. »Weißt du, dass du nach einem großen Krieger benannt bist?«

Suhrab nickte. Er stieg zurück aufs Bett und sah fern.

»Ich wusste nicht, dass Sie Farsi sprechen«, sagte ich auf Englisch. »Stammen Sie aus Kabul?«

»Nein, geboren bin ich in Karachi. Ich habe allerdings einige Jahre in Kabul gelebt. In Shar-e-Nau nahe der Haji-Yaghoub-Moschee«, antwortete Faisal. »Aber aufgewachsen bin ich in Berkeley. Mein Vater hat dort Ende der sechziger Jahre eine Musikalienhandlung aufgemacht. Freie Liebe, Stirnbänder, gebatikte Unterhemden und so weiter.« Er beugte sich vor. »Ich war in Wood-stock dabei.«

»Groovy«, sagte ich, worauf Faisal so heftig lachte, dass er wieder zu schwitzen anfing. »Wie auch immer«, fuhr ich fort, »was ich Mr. Andrews gesagt habe, ent spricht ziemlich genau der Wahrheit, abgesehen von ein, zwei kleinen Details. Ich werde Ihnen die unzensierte Version vortragen.«

Er befeuchtete die Kuppe des Zeigefingers, schlug eine noch unbeschriebene Seite auf und nahm einen Füller zur Hand. »Das weiß ich zu schätzen, Amir. Beschränken wir uns von jetzt ab aufs Englische.«

»Gern.«

Ich erzählte ihm alles, was passiert war. Berichtete ihm von meinem Treffen mit Rahim Khan, der Fahrt nach Kabul, dem Waisenhaus, der Steinigung im Ghazi-Stadion.

»Gott«, hauchte er. »Wie schrecklich, dabei habe ich so gute Erinnerungen an Kabul. Kaum zu glauben, dass es derselbe Ort ist, von dem Sie da berichten.«

»Sind Sie in jüngerer Zeit wieder einmal da gewesen?«

»Nein.«

»Wie in Berkeley ist es jedenfalls dort nicht, das können Sie mir glauben«, sagte ich.

Dann erzählte ich den Rest, von der Begegnung mit Assef, dem Kampf, Suhrab und seiner Schleuder, unserer Flucht nach Pakistan. Als ich fertig war, machte er sich ein paar Notizen, atmete tief durch, bedachte mich mit einem ernsten Blick und sagte: »Tja, Amir, da haben Sie einen schweren Kampf vor sich.«

»Einen, den ich gewinnen kann?«

Er schraubte die Kappe auf den Füller. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich wie Raymond Andrews klinge: Die Chancen sind sehr gering. Unmöglich ist es nicht, aber sehr unwahrscheinlich.« Das Lächeln und der schelmische Ausdruck waren verschwunden.

»Aber Kinder wie Suhrab brauchen ein Zuhause am allernötigsten«, sagte ich. »Diese Regeln und Vorschrif ten ergeben für mich keinen Sinn.«

»Mir brauchen Sie das nicht zu sagen, Amir«, antwortete er. »Aber die geltenden Einwanderungsgesetze, das Adoptionsrecht, die politische Situation in Afghanistan — all das spricht gegen Sie.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich und hätte am liebsten um mich geschlagen. »Ich meine, ich begreife zwar, kann es aber nicht verstehen.«

Omar nickte und runzelte die Stirn. »So ist es. Nach einer Katastrophe, ob natürlichen Ursprungs oder von Menschen verursacht — und die Taliban sind eine Katastrophe, Amir, glauben Sie mir —, nach einer Katastrophe ist es immer schwer, zweifelsfrei festzustellen, ob ein Kind Waise ist oder nicht. Kinder gehen in Flüchtlingslagern verloren, oder sie werden von ihren Eltern ausgesetzt, weil die nicht mehr für sie sorgen können. So etwas kommt ständig vor. Darum wird Ihrem Neffen erst dann ein Visum ausgestellt, wenn belegt ist, dass er der Definition eines Waisenkindes entspricht. Bedaure, ich weiß, es klingt lächerlich, aber Sie brauchen Sterbeurkunden.«

»Sie kennen doch die Verhältnisse in Afghanistan«, sagte ich, »und werden wissen, dass es schlicht unmöglich ist, dort solche Dokumente zu bekommen.«

»Ganz recht«, antwortete er. »Jetzt nehmen wir einmal an, es gäbe keinen Zweifel daran, dass das Kind verwaist ist. In dem Fall wird die Einwanderungsbehörde argumentieren, dass es gute Adoptionspraxis sei, das Kind an Eltern im eigenen Land zu geben, damit es sein Kulturerbe nicht aufzugeben braucht.«

»Was für ein Erbe?«, entgegnete ich. »Die Taliban haben alles, was die Afghanen an kulturellem Erbe hatten, vernichtet. Sie erinnern sich doch noch, was die mit den großen Buddha-Statuen in Bamiyan angerichtet haben.«

»Tut mir Leid, ich sage Ihnen ja nur, wie der INS verfährt, Amir«, erwiderte Omar und legte mir die Hand auf den Arm. Er warf einen kurzen Blick auf Suhrab und lächelte. Wieder an mich gewandt, sagte er: »Nun, ein Adoptionsverfahren richtet sich nach den Gesetzen und Regularien des jeweiligen Landes, aus dem das zu adoptierende Kind stammt. Wenn aber in einem solchen Land Chaos herrscht, wie etwa in Afghanistan, haben die überlasteten staatlichen Behörden Wichtigeres zu tun, als Adoptionsverfahren abzuwickeln.«

Ich seufzte und rieb mir die Augen, hinter denen sich ein pochender Schmerz bemerkbar machte.

»Aber nehmen wir einmal an, dass Afghanistan seine Angelegenheiten irgendwie in den Griff bekommt«, fuhr Omar fort und verschränkte die Hände auf seinem Bäuchlein. »Ich fürchte, auch dann werden Sie Ihren Antrag nicht durchbringen. Selbst moderatere muslimische Länder sind in dieser Hinsicht sehr zögerlich, da das islamische Recht, die Scharia, so etwas wie Adoption nicht vorsieht. Und die Taliban kann man nicht als moderat bezeichnen, sie sind Fundamentalisten.«

»Sie raten mir also, es gar nicht erst zu versuchen?«, fragte ich und presste die Hand an die Stirn.

»Ich bin in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, Amir. Wenn ich dort eins gelernt habe, dann die Maxime, dass aufzugeben das Allerletzte ist. Aber als Ihr Anwalt muss ich Ihnen reinen Wein einschenken«, sagte er. »Und da wäre noch etwas: Adoptionsvermittlungsstellen recherchieren für gewöhnlich im Umfeld des Kindes. Aber welche Agentur in Amerika würde einen Angestellten nach Afghanistan schicken?«

Ich bemerkte, dass Suhrab uns beobachtete. So wie er hatte auch sein Vater immer dagesessen: das Kinn auf die Knie gestützt.

»Ich bin sein Halbonkel. Zählt das nicht?«

»Doch, wenn Sie es beweisen können, gibt es irgendwelche Papiere, aus denen hervorgeht, dass Sie sein Halbonkel sind?«

»Nein«, antwortete ich müde. »Ich wusste es ja bis vor kurzem selber nicht. Die einzige Person, die Zeugnis ablegen könnte, ist verschwunden, womöglich inzwischen gestorben.«

»Hmm.«

»Welche Optionen bleiben mir noch, Omar?«

»Sehr wenige. Verzeihen Sie meine Offenheit.«

»Himmel, was kann ich tun?«

Omar holte Luft, tippte mit dem Füller an sein Kinn und atmete geräuschvoll aus. »Sie können einen Antrag stellen und das Beste hoffen. Oder vielleicht versuchen Sie es mit einer so genannten independent adoption. Das heißt, Sie würden mit Suhrab für die nächsten zwei Jahre hier in Pakistan leben müssen. Oder Sie beantragen für ihn Asyl; in dem Fall müssten Sie sich auf ein längeres Verfahren einrichten und nachweisen, dass er in seinem Heimatland politisch verfolgt wird. Sie könnten auch bei der Staatsanwaltschaft eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, doch die wird nur in ganz seltenen Fällen ausgestellt.« Er stockte. »Es gibt da allerdings noch etwas, und das könnte Ihre Chance sein.«

»Was?«, drängte ich.

»Sie könnten ihn einem hiesigen Waisenhaus zur Verwahrung geben und eine Waisenpetition einreichen. Sie füllen dann die I-600 aus und lassen den vorgeschriebenen Eignungstest über sich ergehen.«

»Wie bitte? Ich kann nicht ganz folgen.«

»Verzeihung, die I-600 ist ein Antragsformular, das der INS ausgibt. Der Eignungstest wird von einer Vermittlungsstelle Ihrer Wahl bei Ihnen zu Hause durchgeführt«, erklärte Omar. »Er soll sicherstellen, dass Sie und Ihre Frau nicht übergeschnappt und gemeingefährlich sind.«

»Das geht nicht«, sagte ich mit Blick auf Suhrab. »Ich habe ihm versprechen müssen, ihn nicht wieder in ein Heim zu stecken.«

»Aber da läge, wie gesagt, Ihre beste Chance.«

Wir unterhielten uns noch eine Weile. Dann begleitete ich ihn nach draußen zu seinem Wagen, einem alten VW-Käfer. Die Sonne ging gerade unter, im Westen lag ihr Widerschein flammend rot über Islamabad. Ich sah, wie die Federung des Wagens unter Omars Gewicht nachgab, als er sich hinter das Steuerrad quetschte. Er kurbelte das Fenster herunter.