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»Amir?«

»Ja.«

»Hab ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass ich Ihr Vorhaben großartig finde?«

Er winkte und fuhr los. Ich schaute ihm nach und wünschte, Soraya wäre bei mir.

Suhrab hatte den Fernseher ausgeschaltet, als ich ins Zimmer zurückkam. Ich setzte mich auf die Kante meines Bettes und bat ihn, an meiner Seite Platz zu nehmen. »Mr. Faisal sieht eine Möglichkeit, wie wir deine Einreise nach Amerika in die Wege leiten können.«

»Und?« Seit Tagen zeigte Suhrab wieder einmal ein flüchtiges Lächeln. »Wann fahren wir?«

»Tja, das ist der Punkt. Wir müssen uns noch eine Weile gedulden. Aber er sagt, dass es möglich ist, und will uns dabei helfen.« Ich legte ihm die Hand auf den Nacken. Draußen hallte die Aufforderung zum Gebet durch die Straßen.

»Wie lange?«, wollte Suhrab wissen.

»Ich weiß es nicht. Eine Weile.«

Suhrab zuckte mit den Achseln und lächelte, diesmal schon ein bisschen breiter. »Egal. Ich kann warten. Das ist wie mit sauren Äpfeln.«

»Sauren Äpfel?«

»Einmal, da war ich noch ganz klein, bin ich auf einen Baum geklettert und habe grüne, saure Äpfel gegessen. Davon ist mein Bauch angeschwollen und so hart geworden wie eine Trommel. Es hat schrecklich wehgetan. Und Mutter hat gesagt, dass mir nicht schlecht geworden wäre, wenn ich gewartet hätte, bis die Äpfel reif sind. Wenn ich jetzt etwas wirklich gerne haben will, denke ich daran, was sie über die Äpfel gesagt hat.«

»Saure Äpfel«, wiederholte ich. »Mashallah, du bist der schlauste kleine Junge, der mir je begegnet ist, Suhrab jan.« Ich sah, wie er rote Ohren bekam.

»Werden Sie mir diese große Brücke zeigen? Die aus dem Nebel aufragt?«

»Ganz bestimmt«, antwortete ich. »Ganz bestimmt.«

»Und die Straßen, auf denen man nur die Motorhaube und den Himmel sieht?«

»Die zeige ich dir auch, jede einzelne«, versprach ich und drängte eine Träne zurück.

»Ist Englisch zu lernen schwer?«

»Ich würde sagen, in etwa einem Jahr wirst du genauso gut Englisch sprechen können wie Farsi.«

»Wirklich?«

»Ja.« Ich legte einen Finger an sein Kinn und sorgte dafür, dass er mich ansah. »Aber es gibt da noch einen Haken, Suhrab.«

»Welchen?«

»Nun, Mr. Faisal meint, dass es helfen würde, wenn… wenn du bereit wärst, noch eine Zeit lang in einem Heim für Kinder zu wohnen.«

»Heim für Kinder?« Das Lächeln verschwand. »Sie meinen ein Waisenhaus.«

»Es wäre nur für kurze Zeit.«

»Nein«, sagte er. »Bitte, nein.«

»Suhrab, es wäre wirklich nur für kurze Zeit. Das verspreche ich.«

»Sie haben mir versprochen, dass ich nie wieder an so einen Ort komme, Amir Aga«, sagte er mit brüchiger Stimme, und aus seinen Augen quollen Tränen. Ich kam mir vor wie ein Schuft.

»Das ist etwas anderes. Es wäre hier, in Islamabad, nicht in Kabul. Und ich würde immer zu Besuch kommen, bis wir dann endlich gemeinsam nach Amerika fliegen können.«

»Bitte. Bitte, nein!«, schluchzte er. »Ich habe Angst. Man wird mir wehtun. Ich will nicht.«

»Dir wird niemand wehtun. Nie wieder.«

»Doch, das werden sie! Alles andere ist gelogen. Bitte, lieber Gott!«

Ich wischte die Tränen, die ihm über die Wange liefen, mit meinem Daumen ab. »Saure Apfel, du weißt doch, was es damit auf sich hat«, sagte ich leise. »Es wäre dasselbe.«

»Nein, wäre es nicht. Ich will nicht in ein Heim. Bitte, nein!« Er zitterte. Rotz und Tränen troffen ihm von der Oberlippe.

»Schhhhh.« Ich schlang die Arme um den bebenden kleinen Körper und zog ihn an mich. »Schhhh. Es wird alles gut werden. Wir werden zusammen nach Hause fliegen. Du wirst sehen, alles wird gut.«

Meine Brust dämpfte seine Stimme, doch war die Panik, die in ihr mitschwang, unüberhörbar. »Bitte, versprechen Sie mir, dass ich nicht ins Heim muss. Oh Gott, Amir Aga. Versprechen Sie’s mir!«

Wie konnte ich ihm das versprechen? Ich drückte ihn an mich, wiegte ihn hin und her. Er weinte, bis seine Tränen versiegten, bis er zu beben aufhörte und seine flehenden Bitten in ein unverständliches Schluchzen übergegangen waren. Ich wartete, wiegte ihn, und allmählich atmete er wieder freier, und sein Körper entspannte sich. Ich erinnerte mich an Worte, die ich vor langer Zeit irgendwo gelesen hatte: .So geben Kinder mit Schrecken um. Sie schlafen ein.

Ich trug ihn in sein Bett. Dann streckte auch ich mich aus und schaute durch das Fenster auf den purpurnen Himmel über Islamabad.

Der Himmel war tiefschwarz, als mich das Telefon aus dem Schlaf riss. Ich rieb mir die Augen und schaltete die Lampe neben dem Bett ein. Es war kurz nach halb elf; ich hatte über drei Stunden geschlafen. Ich griff zum Hörer. »Hallo?«

»Ein Anruf aus Amerika«, meldete Mr. Fayyaz mit gelangweilter Stimme.

»Danke.« Im Badezimmer brannte Licht. Suhrab nahm sein nächtliches Bad. Es klickte ein paarmal in der Leitung, dann hörte ich Sorayas Stimme: »Salaam!« Sie klang aufgeregt.

»Hi.«

»Wie ist das Gespräch mit dem Anwalt gelaufen?«

Ich berichtete ihr von Omar Faisals Vorschlag. »Also, das kannst du vergessen«, antwortete sie. »Das wird nicht nötig sein.«

Ich richtete mich auf. »Rawsti? Warum, was ist los?«

»Kaka Sharif hat sich gemeldet. Er sagt, es komme einzig darauf an, Suhrab ins Land zu schleusen. Wenn er erst einmal da sei, werde sich alles andere finden. Er hat sich mit seinen Freunden beim INS in Verbindung gesetzt, mich heute Abend angerufen und gesagt, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach eine Aufenthaltserlaubnis für Suhrab erwirken könne.«

»Im Ernst?«, sagte ich. »Gott sei Dank. Der gute alte Sharif jan.«

»Ja, und wir garantieren für Suhrabs Lebensunterhalt. Das Ganze sollte aber möglichst schnell über die Bühne gehen. Er sagte, die Aufenthaltserlaubnis ist nur für ungefähr ein Jahr gültig, aber das müsste ja für einen Adoptionsantrag reichen.«

»Dann wird es also wirklich dazu kommen?«

»Sieht ganz danach aus«, antwortete Soraya. Sie klang glücklich. Wir versicherten uns unserer Liebe. Dann legte ich auf.

»Suhrab!«, rief ich und stand vom Bett auf. »Gute Nachrichten.« Ich klopfte an die Badezimmertür. »Suhrab! Soraya hat soeben aus Kalifornien angerufen. Du wirst nicht in ein Heim gehen müssen, Suhrab. Wir fliegen nach Amerika, du und ich. Hörst du? Wir fliegen nach Amerika!«

Ich öffnete die Tür. Trat ein.

Plötzlich lag ich auf den Knien und schrie. Schrie durch zusammengebissene Zähne. Schrie, bis ich dachte, dass mir der Hals platzt.

Später erfuhr ich, dass ich immer noch schrie, als die Ambulanz eintraf.

25

Sie lassen mich nicht zu ihm.

Ich sehe, wie sie ihn auf einer Rolltrage durch eine Reihe von Flügeltüren fahren. Ich zwänge mich hinter ihnen hindurch. Ein Schwall von Jod- und Peroxidgerüchen schlägt mir entgegen. Alles, was ich jetzt sehe, sind zwei Männer mit OP-Haube auf dem Kopf und eine Frau in Grün, die sich über die Trage beugen. Ein weißes Laken hängt an der Seite herunter und streift über den schachbrettartig gefliesten Boden. Zwei kleine blutverschmierte Füße sehen unter dem Laken hervor, und mir fällt auf, dass der Nagel des großen Zehs am linken Fuß aufgerissen ist. Dann drückt mir ein großer, stämmiger Mann in Blau seine flache Hand auf die Brust und schiebt mich durch die Türen zurück. Ich spüre seinen Ehering kalt auf meiner Haut, versuche, gegen ihn anzukommen, schimpfe auf ihn ein, doch er sagt, dass ich keinen Zutritt habe, sagt es auf Englisch, freundlich, aber bestimmt. Sie müssen sich gedulden, sagt er und schiebt mich in den Wartebereich zurück. Scheinbar seufzend schwingen nun wieder die Flügeltüren hinter ihm zu, und ich sehe nur noch die Hauben der Chirurgen in dem schmalen rechteckigen Fensterausschnitt der Türen.