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Ich befinde mich in einem weiten fensterlosen Flur voller Menschen, die auf metallenen Klappstühlen entlang den Wänden sitzen. Manche hocken auch auf dem dünnen, abgewetzten Teppich. Ich bin drauf und dran zu schreien und erinnere mich an eine Situation, in der mir ähnlich zumute war: auf der Flucht mit Baba, mit anderen Flüchtlingen eingepfercht im Tank eines Tanklastzugs. Ich wollte mich losreißen von diesem Ort, aus dieser Realität, wie eine Wolke aufsteigen und davonschweben, mich auflösen in der schwülen Sommernacht irgendwo da draußen, hoch oben über den Hügeln. Stattdessen aber bin ich hier, mit bleischweren Beinen, Lungen ohne Luft und brennender Kehle. Ein Davonschweben gibt es nicht. Es wird heute Nacht keine andere Realität geben. Ich schließe die Augen, nehme die Gerüche um mich herum wahr, Schweiß und Ammoniak, vergällter Alkohol und Curry. Unter der Decke stürzen sich Motten auf das graue Licht der Leuchtstoffröhren, und ich höre das papierene Flappen ihrer Flügel. Ich höre Geplapper, gedämpftes Schluchzen, Schniefen. Jemand stöhnt, ein anderer seufzt, Fahrstuhltüren öffnen sich mit einem Pling, und von der Zentrale wird auf Urdu irgendjemand über Lautsprecher gerufen.

Ich schlage die Augen wieder auf und weiß auf einmal, was ich zu tun habe. Ich sehe mich um. Mein Herz hämmert in der Brust, in den Ohren rauscht das Blut. Links von mir liegt eine kleine dunkle Abstellkammer. Darin finde ich, wonach ich suche. Ich nehme eins der gefalteten, gestapelten weißen Bettlaken und kehre damit zurück in den Flur. Vor der Toilettentür sehe ich eine Krankenschwester, die sich mit einem Polizisten unterhält. Ich mache die Frau auf mich aufmerksam und frage, wo Westen ist. Sie scheint nicht zu verstehen und kräuselt die Stirn. Mein Hals schmerzt, und der Schweiß brennt mir in den Augen. Wenn ich Luft hole, ist es, als würde ich Feuer einatmen, und ich glaube, ich weine. Ich wiederhole meine Frage. Ich bettle. Der Polizist zeigt mir schließlich die Richtung.

Ich werfe meinen provisorischen jai-namaz, meinen Gebetsteppich, auf den Boden, knie darauf nieder und senke den Kopf. Meine Tränen tropfen auf das Laken.

Ich verbeuge mich gen Westen. Mir wird bewusst, dass ich seit über fünfzehn Jahren nicht gebetet habe. Ich habe die Worte vergessen. Aber das macht nichts, ich sage, was mir noch einfällt: La illaha il Allah, Mohammad u rasul ullah. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet. Ich weiß jetzt, dass Baba irrte. Es gibt einen Gott, es hat ihn immer gegeben. Ich sehe ihn hier, in den Augen der Leute in diesem Flur der Ver zweiflung, dem wahren Gotteshaus. Wer Gott verloren hat, findet ihn hier wieder, nicht in der weißen masjid mit ihren strahlenden Diamantenlichtern und den himmelwärts strebenden Minaretten. Es gibt einen Gott, es muss ihn geben, und nun werde ich beten, ich werde ihn bitten, mir zu verzeihen, dass ich ihn all die Jahre missachtet habe, dass ich betrogen, gelogen und gesündigt habe und mich ihm erst jetzt, in höchster Not zuwende; ich bitte, dass er sich mir gnädig, wohlwollend und gütig erweist, was er ja seiner Schrift nach ist. Ich verbeuge mich gen Westen, küsse den Boden und verspreche, die zakat zu entrichten, das namaz zu sprechen, während des Ramadan zu fasten und auch darüber hinaus; und ich werde jedes einzelne Wort seines heiligen Buches auswendig lernen und mich auf die Pilgerfahrt in die Wüstenstadt begeben und vor der Ka’bah das Haupt neigen. All das werde ich tun, und ich werde von nun an täglich seiner gedenken, wenn er mir doch nur diesen einen Wunsch erfüllt. An meinen Händen klebt Hassans Blut; gebe Gott, dass nicht auch das Blut seines Jungen an ihnen klebe.

Ich höre ein Wimmern und bemerke, dass es aus meinem eigenen Mund kommt. Tränen rinnen über mein Gesicht, schmecken salzig auf den Lippen. Ich spüre, dass alle Augen auf mich gerichtet sind, verharre aber, die Stirn auf dem Boden. Ich bete. Ich bete und hoffe, dass ich nicht so tief in der Sünde verstrickt bin, wie ich im mer befürchtet habe.

Über Islamabad bricht eine schwarze, sternenlose Nacht herein. Es sind ein paar Stunden vergangen, und ich sitze auf dem Boden eines kleinen Warteraums jenseits des Flures, der zur Notaufnahme führt. Vor mir steht ein kleiner brauner Tisch voller Zeitungen und Magazine mit Eselsohren — eine 1996er Aprilausgabe der Time; eine pakistanische Zeitung mit dem Abbild eines Jungen, der vor einer Woche von einem Zug erfasst und getötet wurde; eine Hochglanz-Illustrierte mit lächelnden Holly-wood-Stars. Mir gegenüber sitzt eine alte Frau in einem jadegrünen shalwar-kameez und mit gehäkeltem Schal in ihrem Rollstuhl. Sie ist eingenickt. Ab und an bewegt sie sich und murmelt auf Arabisch ein Gebet. Vor Müdigkeit benommen, frage ich mich, wessen Gebete wohl in dieser Nacht erhört werden, ihre oder meine. Im Geiste vergegenwärtige ich mir Suhrabs Gesicht, das spitz zulaufende Kinn, die kleinen Ohrmuscheln, seine wie Bambusblätter geformten schmalen Augen, die Augen seines Vaters. Mich überkommt eine Traurigkeit so schwarz wie die Nacht, und ich spüre, wie sich mir der Hals zuschnürt.

Ich brauche Luft.

Ich stehe auf und öffne das Fenster. Die durch das Fliegengitter strömende Luft ist modrig und heiß — sie riecht nach Dung und überreifen Datteln. Ich zwänge Mengen davon in meine Lungen, doch die Beklemmung bleibt. Ich sinke wieder zu Boden, nehme das Time-Magazin zur Hand und blättere in den Seiten. Lesen kann ich nicht, kann mich auf nichts konzentrieren. Ich werfe das Heft zurück auf den Tisch und starre wieder auf die wirren Risse im Betonfußboden, auf das Spinnengewebe im Winkel zwischen Decke und Wand, auf die toten Fliegen auf dem Fensterbrett. Und immer wieder starre ich auf die Wanduhr. Es ist kurz nach vier. Dass man mich aus dem Raum mit der schwingenden Flügeltür ausgesperrt hat, liegt nun schon über fünf Stunden zurück. Und noch immer hat man mir keine Nachricht gegeben.

Der Boden unter mir fühlt sich zunehmend wie ein Teil meines Körpers an. Mein Atem wird schwerer, langsamer. Ich möchte schlafen, die Augen schließen, meinen Kopf auf den kalten, staubigen Beton legen. Und wegdösen. Wenn ich dann aufwache, werde ich vielleicht feststellen, dass es nur ein Traum war, was sich mir im Badezimmer des Hotels gezeigt hatte: das blutige Badewasser, in das einzelne Tropfen vom Wasserhahn fallen; der über den Wannenrand hängende linke Arm; die blutverschmierte Rasierklinge auf dem Spülkasten der Toilette — dieselbe Klinge, mit der ich mich am Tag zuvor rasiert hatte; und seine Augen, halb offen, aber ohne Licht. Vor allem diese Augen. Ich wünschte, ich könnte sie vergessen.

Irgendwann überkommt mich der Schlaf, und ich gebe ihm nach. Später kann ich mich nicht erinnern, ob und was ich geträumt habe.

Irgendjemand tippt mir auf die Schulter. Ich öffne die Augen. Da kniet ein Mann an meiner Seite. Er trägt eine OP-Haube wie die Männer hinter der schwingenden Flügeltür und einen Papiermundschütz. Dass ich Blut auf dem Mundschutz sehe, macht mir Angst. Auf dem Piepser des Mannes klebt das Bild eines jungen Mädchens mit großen dunklen Augen. Er nimmt den Mundschutz vom Gesicht, und es erleichtert mich, dass ich Suhrabs Blut nicht länger sehen muss. Seine Haut ist so dunkel wie die importierte Schweizer Schokolade, die Hassan und ich früher immer auf dem Basar von Shar-e-Nau gekauft hatten. Er hat schütteres Haar und hasel-nussbraune Augen mit langen Wimpern. Er spricht mit britischem Akzent, stellt sich mir als Dr. Nawaz vor. Am liebsten würde ich weglaufen, fürchte ich doch, nicht ertragen zu können, was er mir zu sagen hat. Er sagt, der Junge habe sich tiefe Schnittwunden zugefügt und sehr viel Blut verloren. Meine Lippen beten wieder: