Mit versteinerter Miene hielt er meinem Blick für eine Weile stand. Seine Augen waren immer noch leer und ohne Licht, genauso wie in der Schreckensnacht, als ich ihn aus der Wanne gezogen hatte. Ich langte in die Papiertüte zwischen meinen Füßen und zog eine antiquarische Ausgabe des Shahname heraus, die ich in dem persischen Buchladen gekauft hatte. Ich hielt Suhrab den Buchdeckel vors Gesicht. »Daraus habe ich deinem Vater vorgelesen, als wir Kinder waren. Wir sind auf den Hügel hinterm Haus gestiegen und haben uns unter den Granatapfelbaum gesetzt…« Ich stockte. Suhrab schaute unverwandt zum Fenster hinaus. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Am liebsten hörte dein Vater die Geschichte von Rostem und Suhrab. Nach ihm bist du benannt, ich glaube, das weißt du.« Ich kam mir ein bisschen idiotisch vor. »Wie auch immer, in seinem Brief erwähnte er, dass es auch deine Lieblingsgeschichte sei. Also dachte ich, dir daraus vorzulesen. Würde dir das gefallen?«
Suhrab machte die Augen zu. Legte den violett angelaufenen Arm übers Gesicht.
Ich schlug die noch im Taxi markierte Seite auf. »Dann fange ich jetzt an«, sagte ich und fragte mich zum ersten Mal, welche Gedanken Hassan wohl durch den Kopf gegangen sein mochten, als er das Shahname schließlich selbst gelesen und entdeckt hatte, dass er all die Male von mir hinters Licht geführt worden war. »›Vernimm die tränenreiche Geschichte vom Kampf zwischen Suhrab und Rostem‹«, fing ich zu lesen an. »›Es begab sich, dass Rostem eines Tages mit düsteren Vorahnungen von seinem Lager aufstand. Er dachte bei sich…‹« Ich las fast das ganze erste Kapitel vor und endete an der Stelle, wo der junge Krieger Suhrab von seiner Mutter Tahmineh, der Prinzessin aus Samengan, zu wissen verlangt, wer sein Vater ist. Ich klappte das Buch zu. »Soll ich weiterlesen? Im weiteren Verlauf kommt es zu Kämpfen. Erinnerst du dich? Suhrab führt sein Heer zur Weißen Burg im Iran. Soll ich weiterlesen?«
Er schüttelte den Kopf, worauf ich das Buch in die Papiertüte zurücksteckte. »Na gut«, sagte ich, froh darüber, dass er überhaupt reagiert hatte. »Vielleicht machen wir morgen weiter. Wie fühlst du dich?« Suhrab öffnete den Mund und gab heisere Laute von sich. Dr. Nawaz hatte mich darauf vorbereitet und erklärt, dass das Beatmungsrohr die Stimmbänder verletzt habe. Suhrab fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wiederholte den Versuch. »Müde.«
»Ich weiß. Dr. Nawaz sagt, das sei zu erwarten…«
Er schüttelte den Kopf.
»Was ist denn, Suhrab?«
Es fiel ihm merklich schwer, die angekratzte Stimme zu bemühen. »Müde von allem«, hauchte er heiser.
Seufzend ließ ich mich auf den Stuhl zurücksinken. Ein Lichtstreif fiel zwischen uns übers Bett. Für einen Moment glaubte ich in dem aschgrauen Gesicht mir gegenüber das genaue Ebenbild Hassans zu erkennen, nicht des Hassan, mit dem ich Murmeln gespielt hatte, bis der Mullah zum Abendgebet rief, nicht des Hassan, mit dem ich von unserem Hügel herab um die Wette gelaufen war, wenn die Sonne hinter den Lehmdächern im Westen unterging; es war vielmehr jener Hassan, wie ich ihn das letzte Mal vom Fenster meines Zimmers aus gesehen hatte, als er zusammen mit Ali seine wenigen Habseligkeiten in den Kofferraum von Babas Wagen packte, während ein warmer Sommerregen auf die beiden niederging.
Er schüttelte den Kopf. »Müde von allem«, wiederholte er.
»Was kann ich tun, Suhrab? Bitte, sag es mir.«
»Ich möchte…« krächzte er und langte mit der Hand an den Hals, als wollte er beseitigen, was seine Stimme unterdrückte. Wieder fiel mein Blick auf seine fest mit weißem Mull verbundenen Handgelenke. »Ich möchte in mein früheres Leben zurück«, hauchte er.
»Oh Suhrab.«
»Zurück zu Vater und Mutter jan. Zu Sasa. Ich möchte mit Rahim Khan Sahib im Garten spielen. Ich möchte wieder in unserem Haus wohnen.« Er warf den Unterarm übers Gesicht. »Ich möchte in mein früheres Leben zurück.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wusste nicht, wohin mit den Augen und starrte auf meine Hände. Dein früheres Leben, dachte ich. Oder das meine. Ich habe im selben Hof gespielt, Suhrab. Ich habe im selben Haus gewohnt. Aber das Gras ist verdorrt, und in der Auffahrt steht ein fremdes Auto, aus dem Öl auf den Asphalt tropft. Mit unserem früheren Leben ist es vorbei, Suhrab, und alle, die daran teilhatten, sind entweder tot oder liegen im Sterben. Nur du und ich sind übrig geblieben. Nur du und ich.
»Dazu kann ich dir nicht verhelfen«, antwortete ich.
»Ich wünschte, Sie hätten mich nicht…«
»Bitte, sag so etwas nicht.«
»…wünschte, Sie hätten mich nicht… Ich wünschte, Sie hätten mich im Wasser liegen lassen.«
»Sag das nie wieder, Suhrab«, entgegnete ich und beugte mich vor. »Ich kann nicht ertragen, dass du so sprichst.« Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter. Er entzog sich ihr. Voller Reue dachte ich daran, dass er auf meine Berührungen schon sehr viel entspannter reagiert hatte. »Suhrab, so Leid es mir tut, ich kann dir dein früheres Leben nicht zurückgeben. Aber ich kann dich mit mir nehmen. Das wollte ich dir sagen, als ich ins Badezimmer gekommen bin. Du kannst ein Visum bekommen und mit mir und meiner Frau in Amerika leben. Wirklich. Ich verspreche es dir.«
Er seufzte durch die Nase und schloss die Augen. Ich hätte mir wegen der letzten vier Wörter auf die Zunge beißen mögen. »Weißt du, ich habe in meinem Leben schon so manches getan, was ich bitter bereue«, sagte ich. »So zum Beispiel, dass ich dir etwas versprochen und dieses Versprechen dann zurückgenommen habe. Aber das wird nicht wieder vorkommen. Es tut mir zutiefst Leid, und ich bitte dich um Verzeihung. Verzeihst du mir? Wäre dir das möglich?« Ich senkte die Stimme. »Kommst du mit mir?«
Während ich auf seine Antwort wartete, erinnerte ich mich an einen lange zurückliegenden Wintertag. Hassan und ich saßen unter einem kahlen Kirschbaum im Schnee. Ich hatte ein hässliches Spiel mit ihm getrieben: ihn gefragt, ob er Dreck essen würde, um mir seine Treue zu beweisen. Jetzt war ich auf dem Prüfstand und musste meinen Wert taxieren lassen. Es geschah mir recht.
Suhrab wälzte sich zur Seite, kehrte mir den Rücken zu. Lange ließ er mit der Antwort auf sich warten. Ich dachte schon, er sei eingeschlafen, als er schließlich krächzend sagte: »Ich bin so khasta.« So müde.
Ich saß an seinem Bett, bis er tatsächlich eingeschlafen war. Zwischen uns war etwas verloren gegangen. Vor meinem Gespräch mit dem Anwalt Omar Faisal hatte sich in Suhrabs Augen ein Hoffnungsschimmer gezeigt. Doch der war einem scheuen Gast gleich wieder verschwunden, und ich fragte mich, ob er je wieder zurückzukehren wagte. Ich fragte mich, wann es Suhrab wieder möglich sein würde zu lächeln. Wie lange es wohl noch dauerte, bis er mir wieder würde vertrauen können. Falls überhaupt.
Ich verließ das Krankenhaus und suchte nach einem anderen Hotel, nicht ahnend, dass noch fast ein ganzes Jahr verstreichen sollte, bis ich Suhrab wieder ein Wort sagen hörte.
Suhrab ging auf mein Angebot nicht ein. Er schlug es aber auch nicht aus, wusste er doch sehr genau, was ihm als verwaistem, obdachlosem Hazara bevorstand, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen würde. Welche Wahl blieb ihm? Wohin hätte er sich wenden sollen? Was sich wie ein »Ja« anhörte, war in Wirklichkeit nicht so sehr Zustimmung als stille Kapitulation, die Verzichtserklärung eines Jungen, der zu müde war, um eine Entschei dung zu treffen, und weit davon entfernt, vertrauen zu können. Er sehnte sich nach seinem früheren Leben. Stattdessen bekam er mich und Amerika. Kein schlechtes Los, wenn man’s recht bedenkt, aber das konnte ich ihm nicht vermitteln. Von Dämonen geplagt, war er nicht in der Lage, neue Ziele ins Auge zu fassen.