Ungefähr eine Woche später brachte ich Hassans Sohn von Afghanistan nach Amerika. Er tauschte die Gewissheit des Schreckens gegen erschreckende Ungewissheit.
Irgendwann war ich einmal in einer Videothek in Fremont; das muss 1983 oder 1984 gewesen sein. Ich stand vor einer Auswahl an Wildwestfilmen, als mich ein junger Mann, der Cola aus einem Seven-Eleven-Becher schlürfte, auf Die glorreichen Sieben ansprach und fragte, ob ich diesen Film schon gesehen habe. »Ja, dreizehnmal«, antwortete ich. »Darin geht es Charles Bronson an den Kragen. Und auch James Coburn und Robert Vaughn müssen dran glauben.« Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihm soeben in die Cola gespuckt. »Besten Dank, Mann«, sagte er kopfschüttelnd und brummelte im Weggehen irgendetwas vor sich hin. An diesem Tag lernte ich, dass man Amerikanern niemals den Ausgang eines Films verraten darf, es sei denn, man will sie ärgern. Das Ende vorwegzunehmen gehört sich einfach nicht.
In Afghanistan kommt alles auf das Ende an. Sooft Hassan und ich einen Hindi-Film gesehen hatten und nach Hause zurückkehrten, wollten es alle, die bei uns ein und aus gingen, immer ganz genau wissen: Hat die junge Frau am Finde ihr Glück gefunden? Würden die Träume des bacheh film, des Filmhelden, in Erfüllung gehen, oder war er nah-kam, zum Scheitern verurteilt?
Jeder wollte wissen, ob das Ende glücklich war oder nicht. Wenn mich heute jemand fragte, ob die Geschichte von Hassan, Suhrab und mir ein glückliches Ende gefunden hat, wüsste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Wer könnte das schon sagen?
Das Leben ist schließlich kein Hindi-Film. Zendagi migzara, heißt es unter Afghanen: Das Leben geht weiter; unabhängig von Ausgang oder Finde, ungeachtet aller Klippen und Krisen, bewegt es sich langsam voran wie eine Karawane.
Ich weiß auf diese Frage keine Antwort. Daran ändert auch das kleine Wunder nichts, das sich letzten Sonntag zugetragen hat.
Vor etwa sieben Monaten, an einem warmen Tag im August 2001, kamen wir zu Hause an. Soraya holte uns vom Flughafen ab. Nie zuvor war ich so lange von meiner Frau getrennt gewesen, und als sie sich mir an die Brust warf, als ich in ihrem Haar den Duft von Äpfeln wahrnahm, wurde mir richtig bewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte. »Du bist immer noch die Morgensonne meines yelda«, flüsterte ich.
»Was?«
»Ach, nichts.« Ich drückte ihr einen Kuss aufs Ohr.
Sie ging in die Hocke, um Suhrab auf gleicher Höhe in die Augen zu schauen. Lächelnd ergriff sie seine Hand. »Salaam, Suhrab jan, ich bin deine Khala Soraya. Wir haben dich schon sehnsüchtig erwartet.«
Als ich sah, wie sie den Jungen anlächelte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, bekam ich eine Ahnung davon, was für eine gute Mutter sie hätte sein können.
Suhrab trat von einem Fuß auf den anderen und schaute zu Boden.
Soraya hatte aus dem Arbeitszimmer im Obergeschoss ein Schlafzimmer für Suhrab gemacht. Die hellblaue Bettwäsche war mit bunten Papierdrachen gemustert. Neben dem Kleiderschrank hatte sie eine Messlatte an der Wand befestigt, mit der sich das Wachstum von Kindern verfolgen ließ. Am Fuß des Bettes sah ich einen Weidenkorb mit Büchern, einer Lokomotive und Wassermalfarben.
Suhrab trug das weiße T-Shirt und die Jeans, die ich ihm in Islamabad kurz vor unserem Abflug gekauft hatte.
Das T-Shirt hing lose von seinen knochigen, eingezogenen Schultern herab. Abgesehen von den dunklen Augenrändern, war sein Gesicht immer noch ohne Farbe. Er betrachtete uns mit derselben ausdruckslosen Miene, mit der er auch das Essen betrachtet hatte, das ihm im Krankenhaus vorgesetzt worden war.
Soraya fragte, ob ihm das Zimmer gefalle, und ich merkte, dass ihr Blick immer wieder unwillkürlich auf die rosafarbenen Narben an Suhrabs Handgelenken fiel. Suhrab setzte sich auf die Bettkante, versteckte die Hände unter den Oberschenkeln und senkte den Kopf. Nach einer Weile legte er den Kopf aufs Kissen. Dann, kaum fünf Minuten später, fing er leise zu schnarchen an.
Auch wir gingen zu Bett. Es dauerte nicht lange, und Soraya war in meinen Armen eingeschlafen. Ich konnte wieder einmal keine Ruhe finden und lag im Dunkeln da, allein mit meinen Dämonen.
Irgendwann mitten in der Nacht stand ich leise auf und schlich in Suhrabs Zimmer. Als ich mich über ihn beugte, fiel mir ein Gegenstand auf, der unter dem Kissen hervorlugte. Es war das Polaroidfoto von Rahim Khan, das ich Suhrab an dem Abend vor der Shah-Faisal-Moschee gegeben hatte, dasjenige, auf dem Hassan und Suhrab Seite an Seite zu sehen sind, wie sie, von der Sonne geblendet, blinzeln und lächeln, als wären sie mit sich und der Welt zufrieden. Ich fragte mich, wie lange Suhrab dieses Foto in den Händen gehalten und betrachtet haben mochte.
Dein Vater war hin- und hergerissen, hatte Rahim Khan in seinem Brief geschrieben. Zwischen mir, dem gesellschaftlich anerkannten, legitimen Nachfolger und ahnungslosen Erben seiner Schuld auf der einen und Hassan auf der anderen Seite, jenem Teil von ihm, der, wenngleich ohne Privilegien und Ansehen, all das geerbt hatte, was an Baba rein und edel gewesen war. Möglich, dass Baba im tiefsten Grunde seines Herzens nicht mich, sondern ihn für seinen wahren Sohn gehalten hatte.
Ich steckte das Foto unter das Kissen zurück. Plötzlich fiel mir noch etwas auf: nämlich, dass mich dieser letzte Gedanke gar nicht mehr schmerzte. Ich zog die Tür zu Suhrabs Zimmer hinter mir zu und fragte mich, ob womöglich gerade auf diese Weise Versöhnung zustande kommt — eben nicht mit dem Fanfarenstoß göttlicher Inspiration, sondern ganz heimlich, wenn der Schmerz nachlässt und sich unversehens mitten in der Nacht davonmacht.
Am nächsten Tag kamen der General und Khala Jamila zum Abendessen. Khala Jamila, die Haare kürzer und dunkler als sonst, hatte den Nachtisch mitgebracht: maghout mit Mandelkruste. Als sie Suhrab sah, ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Mashallah! Soraya Jan hat zwar schon davon geschwärmt, wie hübsch du bist, aber in Wirklichkeit bist du noch viel hübscher, Suhrab jan.« Sie reichte ihm einen blauen Rollkragenpullover. »Den hab ich für dich gestrickt«, sagte sie. »Für den nächsten Winter. Hoffentlich passt er, inshallah.«
Suhrab nahm den Pullover entgegen.
»Hallo, junger Mann.« Mehr wusste der General nicht zu sagen. Er stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und musterte Suhrab wie einen ungewöhnlichen Einrichtungsgegenstand im Haus eines Freundes.
Während Soraya und ihre Mutter den Tisch deckten, setzte ich mich mit dem General ins Wohnzimmer. Ich berichtete ihm von Kabul und den Taliban. Er hatte den Stock auf seinen Schoß gelegt und hörte zu, nickte zumeist, schüttelte aber den Kopf, als ich ihm von dem Mann erzählte, der seine Beinprothese verkauft hatte. Über die Exekutionen im Stadion und den Henker Assef verlor ich kein Wort. Er erkundigte sich nach Rahim Khan, dem er in Kabul ein paarmal begegnet war, und zeigte sich betroffen, als ich sagte, dass Rahim Khan sehr krank sei. Im weiteren Verlauf des Gesprächs fiel mir auf, dass sein Blick ein ums andere Mal auf Suhrab fiel, der schlafend auf der Couch lag. Ich hatte den Eindruck, als redeten wir um den heißen Brei herum.