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Als sie weg waren, setzte ich mich auf mein Bett und wünschte mir, Rahim Khan wäre mein Vater. Dann dachte ich an Baba und an seine mächtige Brust und wie gut es sich anfühlte, wenn er mich an sie drückte, wie er am Morgen immer nach Brut roch und wie sein Bart mein Gesicht kitzelte. Und da überfielen mich plötzlich solche Schuldgefühle, dass ich ins Badezimmer rannte und mich ins Becken übergab.

Später am Abend, als ich zusammengerollt im Bett lag, las ich immer wieder Rahims Zeilen an mich. Sie lauteten folgendermaßen:

Amir jan,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Mashallah, Gott hat dir ein besonderes Talent gegeben. Es ist nun deine Pflicht, dieses Talent zu vervollkommnen, denn ein Mensch, der seine gottgegebenen Talente verschwendet, ist ein Esel. Du hast deine Geschichte mit solider Grammatik und in einem interessanten Stil verfasst. Aber das Beeindruckendste an ihr ist, dass sie Ironie besitzt. Vielleicht weißt du nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. Aber das wird sich eines Tages ändern. Es ist etwas, nach dem manche Schriftsteller ihr ganzes Leben lang streben und es doch nie erreichen. Du hast es gleich bei deiner ersten Geschichte geschafft. Meine Tür wird auch weiterhin immer für dich offen stehen, Amir jan. Ich werde mit Freuden jeder Geschichte lauschen, die du zu erzählen hast. Bravo.

Dein Freund,

Rahim

Beseelt von Rahim Khans Zeilen, griff ich mir die Geschichte und rannte nach unten in die Halle, wo Ali und Hassan auf einer Matratze schliefen. Nur wenn Baba weg war und Ali auf mich aufpassen musste, schliefen sie im Haus. Ich rüttelte Hassan wach und fragte ihn, ob er eine Geschichte hören wolle.

Er rieb sich die vom Schlaf verquollenen Augen und reckte sich. »Jetzt? Wie viel Uhr haben wir denn?«

»Ist doch egal. Diese Geschichte ist etwas Besonderes. Ich habe sie selbst geschrieben«, flüsterte ich, um Ali nicht aufzuwecken. Hassans Gesicht erhellte sich.

»Dann muss ich sie hören«, sagte er und streifte bereits die Decke ab, unter der er lag.

Ich las sie ihm im Wohnzimmer am marmornen Kamin vor. Dieses Mal gab es kein spielerisches Abweichen vom Text; hier ging es um mich! Hassan war in vielerlei Hinsicht der perfekte Zuhörer — völlig vertieft war er, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich mit den wechselnden Tönen der Geschichte. Als ich den letzten Satz gelesen hatte, klatschte er ganze leise Beifall.

»Mashallah, Amir Aga. Bravo!« Er strahlte.

»Es hat dir gefallen?«, fragte ich und bekam eine erneute Kostprobe — und wie süß sie war! — einer guten Kritik.

»Eines Tages, inshallah, wirst du ein großer Schriftsteller sein«, erklärte Hassan. »Und die Menschen auf der ganzen Welt werden deine Geschichten lesen.«

»Du übertreibst, Hassan«, erwiderte ich und liebte ihn doch dafür.

»Nein. Du wirst einmal groß und berühmt sein«, beharrte er. Dann entstand eine Pause, und es schien mir, als wollte er noch etwas hinzufügen. Er wog die Worte ab und räusperte sich. »Aber würdest du mir erlauben, dir eine Frage zu der Geschichte zu stellen?«, sagte er schüchtern.

»Aber gewiss.«

»Nun…«, begann er und verstummte.

»Nur heraus damit, Hassan«, ermunterte ich ihn. Ich lächelte, obwohl der unsichere Schriftsteller in mir gar nicht so genau wusste, ob er es überhaupt hören wollte.

»Nun«, sagte er wieder, »ich würde gern eins wissen: Warum hat der Mann seine Frau umgebracht? Warum hat er überhaupt jemals traurig sein müssen, um Tränen zu vergießen? Warum hat er nicht einfach an einer Zwiebel gerochen?«

Ich war fassungslos. Diese Möglichkeit, die so offensichtlich war, dass sie mir zugleich schon wieder ausgesprochen albern erschien, war mir nicht einmal in den Sinn gekommen. Ich bewegte die Lippen und brachte doch keinen Laut hervor. Wie es schien, sollte ich an demselben Abend, an dem ich von einem der Ziele der Schriftstellerei, der Ironie, erfahren hatte, auch Bekanntschaft mit einem ihrer Fallstricke machen: der Lücke in der Handlung. Und das wurde mir ausgerechnet von Hassan beigebracht. Hassan, der nicht lesen konnte und in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Wort geschrieben hatte. Plötzlich begann eine kalte, finstere Stimme in meinem Ohr zu flüstern: Was weiß der denn schon, der ungebildete Hazara? Er wird niemals mehr als ein Diener sein. Wie kann er es wagen, mich zu kritisieren?

»Nun«, begann ich. Doch ich kam nicht dazu, diesen Satz zu beenden.

Denn plötzlich veränderte sich das Afghanistan, das wir kannten, für immer.

5

Irgendetwas grollte wie Donner. Die Erde bebte leicht, und wir vernahmen das Rattern von Maschinengewehren. »Vater!«, schrie Hassan. Wir sprangen auf die Füße und rannten aus dem Wohnzimmer. Ali kam hektisch durch die Halle auf uns zugehumpelt.

»Vater! Was ist das für ein Geräusch?«, rief Hassan und streckte Ali die Hände entgegen. Ali legte die Arme um uns. Ein weißes Licht blitzte auf, tauchte den Himmel in Silber. Ein weiteres Blitzen, gefolgt von einem raschen Stakkato von Schüssen.

»Sie jagen Enten«, erklärte Ali mit heiserer Stimme. »Sie jagen Enten bei Nacht, wisst ihr. Habt keine Angst.«

In der Ferne ertönte eine Sirene. Irgendwo zersplitterte Glas, und jemand rief etwas. Ich hörte Menschen auf der Straße, die aus dem Schlaf gerissen worden waren und, wahrscheinlich noch in ihren Pyjamas, das Haar zerzaust, die Augen verquollen, dort herumliefen. Hassan weinte. Ali zog ihn an sich, umklammerte ihn voller Zärtlichkeit. Später sollte ich versuchen mir einzureden, dass ich Hassan in dem Moment nicht beneidet hatte. In keiner Weise.

So kauerten wir bis in die frühen Morgenstunden beieinander. Die Schießereien und die Explosionen dauerten weniger als eine Stunde, aber sie jagten uns große Angst ein, denn keiner von uns hatte jemals Gewehrschüsse auf den Straßen vernommen. Das waren damals noch ungewohnte Geräusche. Die Generation afghanischer Kinder, deren Ohren nichts als die Geräusche von Bomben und Geschützfeuer kennen würden, war noch nicht geboren. Zusammengekauert saßen wir da und warteten, dass die Sonne aufgehen würde; keiner von uns ahnte damals, dass es mit unserem bisherigen Leben für immer vorbei sein sollte. Wenn auch noch nicht sofort, so war es zumindest der Anfang vom Ende. Das Ende, das offizielle Ende, sollte zunächst im April 1978 mit dem kommunistischen Umsturz kommen und vor allem dann im Dezember 1979, als russische Panzer durch die Straßen rollten, auf denen Hassan und ich spielten. Sie brachten den Tod des Afghanistans, das ich kannte, und leiteten eine bis heute nicht beendete Epoche des Blutvergießens ein.

Kurz vor Sonnenaufgang kam Babas Wagen die Auffahrt heraufgerast. Die Tür wurde zugeknallt, und dann stapften seine eiligen Schritte die Stufen hinauf. Als er im Türrahmen auftauchte, erblickte ich etwas in seinem Gesicht, was ich nicht sofort erkannte, weil ich es dort noch nie gesehen hatte: Angst. »Amir! Hassan!«, rief er, als er mit ausgebreiteten Armen auf uns zugelaufen kam. »Sie haben sämtliche Straßen blockiert, und das Telefon ging nicht. Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

Wir ließen uns von ihm in die Arme schließen, und für einen kurzen, wahnsinnigen Moment war ich froh über das, was in jener Nacht geschehen war — was auch immer es gewesen sein mochte.

Sie hatten doch keine Enten geschossen. Wie sich herausstellte, hatten sie in jener Nacht des 17. Juli 1973 überhaupt nicht viel geschossen. Als Kabul am nächsten Morgen erwachte, gehörte die Monarchie der Vergangenheit an. Der König, Zahir Shah, hielt sich gerade in Italien auf. Da hatte sein Cousin, Daoud Khan, die vierzigjährige Herrschaft des Königs mit einem unblutigen Staatsstreich beendet.