Bei Tisch kam dann der General endlich auf den Punkt. Er legte die Gabel hin und sagte: »Amir jan, erkläre uns doch bitte, warum du diesen Jungen zu dir ms Haus geholt hast?«
»Iqbal jan, was für eine Frage«, sagte Khala Jamila.
»Während du, meine Liebe, fleißig Pullover strickst, habe ich mich um das öffentliche Ansehen unserer Familie zu kümmern. Man wird Fragen stellen. Man wird wissen wollen, warum ein Hazara-Junge im Haus unserer Tochter wohnt. Was werde ich auf solche Fragen antworten?«
Soraya ließ ihr Besteck fallen. Wandte sich an ihren Vater. »Das kann ich dir sagen…«
»Lass gut sein, Soraya«, fiel ich ihr ins Wort und nahm ihre Hand. »Lass gut sein. Der General hat Recht. Die Leute werden fragen.«
»Amir…«
»Schon gut.« Ich wandte mich dem General zu. »Mein Vater hat mit der Frau seines Dieners geschlafen. Sie brachte einen Sohn zur Welt und nannte ihn Hassan. Hassan ist inzwischen tot. Der Junge, der da auf der Couch liegt und schläft, ist Hassans Sohn. Er ist mein Neffe. Das darf jeder wissen.«
Meine Schwiegereltern starrten mich fassungslos an.
»Aber da ist noch etwas, General Sahib«, ergänzte ich. »Ich verbitte mir, dass Sie ihn in meiner Gegenwart noch einmal als ›Hazara-Jungen‹ bezeichnen. Er hat einen Namen und heißt Suhrab.«
Das ganze Essen über blieb es still am Tisch.
Es wäre falsch zu behaupten, dass Suhrab ruhig war. Ruhe ist Frieden. Gelassenheit. Ruhe kehrt ein, wenn der Lautstärkeregler des Lebens heruntergedreht wird.
Stille heißt, es ist alles ausgeschaltet.
Suhrab schwieg nicht aus Protest. Er hatte sich zurückgezogen und suchte in der Stille Deckung.
Von einem Zusammenleben mit ihm konnte keine Rede sein. Er nahm gewissermaßen nur Raum ein, und davon herzlich wenig. Wenn wir unterwegs waren, auf dem Markt oder im Park etwa, fiel auf, dass andere Leute kaum Notiz von ihm nahmen. Es schien, als wäre er gar nicht zugegen. Manchmal kam es vor, dass ich von der Zeitung aufblickte und plötzlich zu meiner Überraschung feststellte, dass Suhrab mir gegenübersaß. Seine Art zu gehen vermittelte den Eindruck, als scheute er sich, Spuren zu hinterlassen. Kaum dass sich ein Lüftchen rührte, wenn er sich bewegte. Meist schlief er.
Seine Stille machte Soraya schwer zu schaffen. In unseren Ferngesprächen zwischen Amerika und Pakistan hatte sie jede Menge Pläne für Suhrab gemacht. Da war von Schwimmunterricht die Rede gewesen, von Fußball, von Bowling. Doch wenn sie jetzt in sein Zimmer trat und feststellte, dass von den Büchern im Weidenkorb kein einziges geöffnet, die Messlatte ohne jede Eintra gung und das Holzpuzzle immer noch eingepackt war, sah sie sich jedes Mal mit enttäuschten Erwartungen konfrontiert. Ihre Hoffnungen schwanden, kaum dass sie aufgekeimt waren. Und mir ging es ganz ähnlich. Auch ich hatte mir anderes erhofft.
Suhrab schwieg, nicht so die Welt. An einem Dienstagmorgen im September des vergangenen Jahres stürzten die Türme des World Trade Center ein, und überNacht wurde alles anders. Überall sah man plötzlich das Sternenbanner: an den Antennen der Taxis, an den Revers der Passanten auf den Gehwegen, selbst an den speckigen Mützen der Bettler von San Francisco, die unter den Markisen der kleinen Kunstgalerien und offenen Läden saßen. Eines Tages kam ich an Edith vorbei, einer obdachlosen Frau, die Tag für Tag an der Ecke Sutter und Stockton Akkordeon spielte. Auf ihrem Instrumentenkoffer klebte die amerikanische Flagge.
Bald darauf wurde Afghanistan von Amerika bombardiert.
Truppen der Nordallianz rückten ein, und die Taliban verkrochen sich wie Ratten in ihre Höhlen. Die Namen der Städte meiner Kindheit — Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif — waren plötzlich in aller Munde. Vor vielen, vielen Jahren hatte Baba einmal mit Hassan und mir eine Fahrt nach Kunduz unternommen. Mir ist nur wenig davon in Erinnerung geblieben, nicht viel mehr als das Bild, wie wir, im Schatten einer Akazie sitzend, abwechselnd aus einem Keramikbecher den frischen Saft einer Wassermelone trinken und mit den Kernen um die Wette weitspucken. Jetzt hörte man im Cafe an der Ecke, wie sich Gäste über Kunduz als die letzte Talibanbastion im Norden unterhielten.
Im Dezember trafen sich Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazara in Bonn, um unter Beobachtung der Vereinten Nationen einen Friedensprozess in Gang zu setzen, der dem unseligen, seit über zwanzig Jahren herrschenden Unglück in ihrem watan ein Ende setzen sollte. Hamid Karzais Pelzkappe und grüner chapan machten Mode.
Suhrab bekam von alledem nichts mit.
Soraya und ich engagierten uns für Afghanistan-Projekte, nicht nur, weil wir uns als Bürger dazu aufgerufen fühlten; es ging uns vor allem auch darum, diese Stille in unserem Haus auszufüllen, die wie ein schwarzes Loch alles in sich aufzusaugen drohte. Ich war nie besonders aktiv gewesen, machte aber dann die Bekanntschaft mit einem Mann namens Kabir, einem ehemaligen afghanischen Botschafter in Sofia, der mich bat, an einem Krankenhausprojekt mitzuwirken. Ich erklärte mich einverstanden. Das Krankenhaus, um das es ging, lag in Rawalpindi, nahe der afghanisch-pakistanischen Grenze, und war mit einer kleinen chirurgischen Abteilung aus gestattet, in der Opfer von Landminen versorgt werden konnten. Es hatte aus finanziellen Gründen dichtmachen müssen. Mir übertrug man nun die Aufgabe der Geldbeschaffung, hoffte auf meine Reputation als Schriftsteller. Die meiste Zeit des Tages brachte ich in meinem Arbeitszimmer zu, korrespondierte mit Leuten auf der ganzen Welt, beantragte Fördermittel und organisierte Sponsorenveranstaltungen. Und redete mir unverdrossen weiter ein, dass es richtig gewesen war, Suhrab zu mir zu holen.
Den Silvesterabend verbrachten Soraya und ich auf dem Sofa; wir hatten uns eine Decke über die Beine gelegt und sahen fern: eine Show mit Dick Clark. Unter großem Gejohle zersprang die silberne Kugel, und alles verschwand im weißen Konfettiwirbel. Bei uns zu Hause fing das neue Jahr genauso an, wie das alte geendet hatte. In Stille.
Dann, vor knapp einer Woche, an einem kühlen, regnerischen Märztag im Jahre 2002, ereignete sich ein kleines Wunder.
Ich fuhr mit Soraya, Khala Jamila und Suhrab zu einem Treffen afghanischer Landsleute im Lake Elizabeth Park in Fremont. Der General war im Vormonat für einen Ministerposten nach Afghanistan geholt worden und seit zwei Wochen in Kabul. Khala Jamila sollte nachkommen, sobald er sich eingerichtet haben würde. Sie vermisste ihn sehr und machte sich große Sorgen um seine Gesundheit. Wir hatten darauf bestanden, dass sie bis auf weiteres bei uns wohnte.
Am vorausgegangenen Donnerstag war Frühlingsanfang gewesen, nach afghanischem Kalender Neujahr — Sawl-e-nau —, und der wurde unter den an der East Bay und auf der Halbinsel lebenden Afghanen groß gefeiert. Kabir, Soraya und ich hatten einen weiteren Grund zur Freude: Unser kleines Krankenhaus in Rawalpindi hatte vor einer Woche wieder aufgemacht, wenn auch fürs Erste nur mit einer pädiatrischen Abteilung. Es war nach Einschätzung aller dennoch ein guter Anfang.
Tagelang hatte die Sonne geschienen, doch als ich am Sonntagmorgen erwachte, klatschten schwere Regentropfen an die Fensterscheibe. Afghanisches Glück, dachte ich und schmunzelte in mich hinein. Während Soraya noch schlief, hielt ich mein allmorgendliches naaz — wozu ich das von der Moschee zur Verfügung gestellte Gebetbuch nicht mehr nötig hatte. Inzwischen konnte ich die Suren auswendig.
Gegen Mittag waren wir vor Ort und trafen nur eine Hand voll Leute an, die unter einer großen, zwischen sechs Zeltstangen aufgespannten Plastikplane Schutz gefunden hatten. Irgendjemand briet bolani. In einem Topf schmorte Blumenkohl, und aus den Teetassen stieg Dampf auf. Aus einem Kassettenrecorder dröhnte ein altes Lied von Ahmad Zahir. Ich musste lachen, als wir zu viert über den aufgeweichten Rasen auf die kleine Festtagsgesellschaft zugingen, Soraya und ich vornweg, Khala Jamila in der Mitte und Suhrab als Schlusslicht. Die Kapuze seines gelben Regenmantels war ihm in den Nacken gerutscht.