Выбрать главу

»Na schön. Dann mal los.« Ich rannte los, stampfte mit meinen Halbschuhen durch Matsch und Pfützen und hielt die Schnur am ausgestreckten Arm. Es war nach vielen, vielen Jahren der erste Versuch dieser Art, und ich fürchtete schon, mich lächerlich zu machen. In der linken Hand ließ ich die Spule abrollen und spürte die Schnur durch die rechte schießen. Der Drachen stieg, taumelte, und ich lief schneller, gab immer mehr Schnur nach, ohne darauf zu achten, dass sie mir eine Wunde in den Handteller schlitzte. Schließlich blieb ich stehen und drehte mich um. Schaute nach oben. Lächelnd. Mein Drachen stand hoch am Himmel, schwang wie ein Pendel hin und her und gab jene flappenden Geräusche von sich, mit denen ich seit eh und je Wintervormittage in Kabul assoziierte. Seit einem Vierteljahrhundert hatte ich keinen Drachen mehr steigen lassen, doch plötzlich war ich wieder zwölf Jahre alt, und all die Instinkte von damals meldeten sich von selbst zurück.

Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Suhrab mir gefolgt war. Er stand neben mir, die Hände tief in den Taschen.

»Willst du’s mal versuchen?«, fragte ich. Eine Antwort blieb aus. Als ich ihm aber die Schnur reichte, zog er eine Hand aus der Tasche. Zögerte. Nahm dann die Schnur entgegen. Mein Herz machte einen Sprung. Schweigend standen wir Seite an Seite, die Köpfe in den Nacken gelegt. Verfolgten unseren Drachen.

Um uns herum tollten Kinder, schlitterten über den nassen Rasen. Irgendjemand spielte das Motiv einer alten Hindi-Filmmusik. Ein paar ältere Männer hatten sich der Reihe nach zum nachmittäglichen namaz auf Plastikfolien niedergelassen. In der Luft hing ein Duftgemisch aus nassem Gras, Rauch und gegrilltem Fleisch. Ich wünschte, die Zeit würde stillstehen.

Dann bemerkte ich, dass wir Gesellschaft bekamen. Ein grüner Drachen kam uns bedrohlich nahe. Ich folgte mit den Augen seiner Schnur und sah, rund dreißig Schritt von uns entfernt, einen Jungen mit kurz geschorenen Haaren und einem T-Shirt mit der Aufschrift »The Rock Rules« stehen. Er sah meinen Blick auf sich gerichtet und grinste. Winkte mir zu. Ich winkte zurück.

Suhrab reichte mir die Schnur.

»Bist du sicher?«, sagte ich.

Er nahm stattdessen die Spule.

»Okay«, sagte ich. »Wir sollten ihm ein sabagh geben, eine Lektion erteilen. Was meinst du?« Ich warf ihm einen Blick zu. Der glasige, leere Ausdruck in seinen Augen war plötzlich verschwunden. Hellwach und voll konzentriert beobachtete er die beiden Drachen, unseren gelben und den grünen des Jungen. Vor Erregung hatten sich seine Wangen ein wenig gerötet. Ich hatte, wie mir jetzt bewusst wurde, ganz vergessen, dass er trotz allem immer noch ein Kind war.

Der grüne Drachen griff an. »Jetzt bloß nicht die Ner ven verlieren«, sagte ich. »Wir lassen ihn noch ein bisschen rankommen.« Er sackte ein Stück tiefer und rückte immer näher. »Na, komm doch. Komm zu mir«, flüsterte ich.

Der grüne Drachen stieg wieder ein Stück, sodass er nun schräg über dem unseren schwebte. Der Junge am anderen Ende der Schnur ahnte offenbar nicht, dass er mir in die Falle tappte. »Pass auf, Suhrab. Ich zeige dir jetzt einen Lieblingstrick deines Vaters.«

Neben mir atmete Suhrab schnell und in flachen Stößen durch die Nase. Er hielt die Spule fest gepackt. Unter der vernarbten Haut seiner Handgelenke traten die Sehnen wie Kordeln zum Vorschein. Einen Moment lang sah ich die Hände eines Jungen mit Lippenspalte vor mir, die Schwielen und aufgerissenen Nägel. Ich hörte eine Krähe krächzen und schaute nach oben. Geblendet vom Licht, wähnte ich mich in eine verschneite Parklandschaft versetzt und glaubte, dicke weiße Flocken von den Zweigen der Bäume rieseln zu sehen. Ich roch Steckrüben. Getrocknete Maulbeeren. Orangen. Sägemehl und Walnüsse. Die Stille im schalldämpfenden Schnee war betäubend. Dann hörte ich jenseits dieser Stille einen Ruf aus der Ferne, die Stimme eines Mannes, der sein rechtes Bein hinter sich herzog.

Der grüne Drachen stand jetzt direkt über dem unseren. »Er will’s wissen. Gleich ist es so weit«, sagte ich, wieder ganz bei der Sache.

Der grüne Drachen zögerte. Verharrte in der Luft. Stieß dann herab. »Jetzt!«, rief ich.

Mein Konter war perfekt. Und das nach all den Jahren. Ich zerrte kurz an der Schnur und ließ unseren Drachen unter dem grünen Angreifer wegtauchen, um ihn gleich darauf mit einer schnellen Folge von präzisen, seitlich geführten Zügen wieder aufsteigen zu lassen. Plötzlich war mein Drache zuoberst. Mein Gegner verhaspelte sich, und ehe er reagieren konnte, hatte ich mir Hassans Trick zunutze gemacht. Ich zog an der Schnur und ließ unseren Drachen nach unten stürzen, konnte fast spüren, wie unsere Schnur die des anderen durchsägte, meinte hören zu können, wie sie entzweiriss.

Außer Kontrolle geraten, trudelte und kreiste der grüne Drachen in die Tiefe.

Hinter uns wurde Beifall laut. Ein Pfeifen und Gejohle. Ich schnappte nach Luft. Einen Gefühlsansturm dieser Art hatte ich seit dem Winter 1975 nicht mehr verspürt, als es mir gelungen war, den letzten Drachen zu schneiden, als ich Baba applaudieren und mit strahlendem Ge sicht auf dem Dach stehen sah.

Ich schaute auf Suhrab. Ein Mundwinkel war ein kleines bisschen nach oben gezogen.

Ein schiefes Lächeln.

Nur eine Andeutung.

Aber es war da.

Hinter uns wurde es laut. Eine Horde schreiender Kinder rannte dem gekappten Drachen nach, der hoch über den Bäumen davonsegelte. Ehe ich mich versah, war das Lächeln wieder verschwunden. Aber es war da gewesen. Ich hatte es gesehen.

»Willst du, dass ich dir den Drachen hole?«

Er schluckte, und sein Kehlkopf sprang auf und ab. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Ich glaubte zu sehen, dass er nickte.

»Für dich — tausendmal«, hörte ich mich selbst antworten.

Dann drehte ich mich um und rannte los.

Es war nur ein Lächeln gewesen, nicht mehr. Aber wahrhaftig nicht gering zu schätzen. Nicht, dass sich nun alles plötzlich zum Guten gewendet hätte. Es war nur ein Lächeln gewesen. Ein Blatt im Wald, leicht bewegt im Sog eines vorbeifliegenden Vogels.

Doch ich nehme es an. Mit offenen Armen. Denn wenn der Frühling kommt, schmilzt der Schnee Flocke für Flocke, und vielleicht war das, was ich soeben gesehen hatte, das Schmelzen der allerersten gewesen.

Ich rannte los. Ein erwachsener Mann inmitten einer Schar schreiender Kinder. Doch das kümmerte mich nicht. Ich lief schneller als der Wind und mit einem Lächeln auf den Lippen, breiter als das Panjshir-Tal.

Ich rannte.

Materialien für Lesekreise

Auf den folgenden Seiten finden Sie weiterführende Informationen zu Khaled Hosseini und seinem Weltbestseller Drachenläufer. Außerdem haben wir für Sie Grundlagenmaterial für eine fruchtbare Diskussion im Lesekreis zusammengestellt.

Afghanistan 2006

Kurzer Abriss der Geschichte Afghanistans

Afghanistan wurde 1747 unter dem Paschtunen Ahmed Schah Durrani zu einem eigenständigen Emirat. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten britische und russische Truppen erfolglos, das Land zu erobern: Afghanistan blieb unabhängig. Nach 1931 bestand mit Mohammed Sahir Schah an der Spitze ein konstitutionelles Königreich. Dieses musste 1973 nach einem Militärputsch einer Republik weichen, in der 1978 die Kommu nisten die Macht übernahmen. Daraufhin formierten sich die muslimischen Mudschaheddin zum Widerstand. 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, stürzten die Regierung und setzten ein prosowjetisches Regime an ihre Stelle. Es folgte ein langer Guerillakrieg, in dem die Mudschaheddin sowohl gegen sowjetische Truppen als auch gegen die afghanische Regierung kämpften und den sie schließlich mit Unterstützung der USA gewannen. Bis 1989 war der Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan abgeschlossen. Nachdem die antikommunistischen Widerstandsorganisationen 1989 eine Gegenregierung gebildet hatten, brach die kommunistische Regierung 1992 endgültig zusammen. Die Mudschaheddin besetzten Kabul und riefen einen islamischen Staat aus. Aufgrund von Abspaltungen und Glaubenskämpfen innerhalb der Mudschaheddin-Gruppierungen entbrannte ein zweijähriger Bürgerkrieg, der endete, als die radikal-islamischen Taliban das Land zu beherrschen begannen. Bis 1998 kontrollierten die Taliban 90 Prozent Afghanistans und etablierten ein streng islamistisches Regime.