Der Stunden Schar, die schlaflos mich bewacht,
Wie ich, mit sterndurchwob’nem Tuch verhängt,
Mich berg’ vor allzu heller Mondennacht,
Umfächeln mich, wenn Träume mich bedrängt,
Und wecken mich, wenn früh die Dämm’rung steigt,
Die Träume all vergehn, der Mond sich neigt.
PERCY SHELLEY: Hymne des Apoll
Prolog
Es gibt Welten, in denen ist die Sonne grün und der Sand schwarz. Es gibt andere, in denen die Berge aus hell klingendem Kristall sind und die Flüsse das reine Gold schnellen Wassers mit sich führen. Es gibt Welten, in denen Schnee die Farbe von Blut hat, das Blut hingegen ist von weißestem Weiß. Es gibt Welten, in denen die Schlösser noch nicht durch riesige graue Stacheln mit unendlich vielen Stockwerken ersetzt wurden, und andere, wo diese Stacheln schon lange verlassen daliegen und aus ihren Ruinen Betonplatten für den Bau neuer Schlösser davongeschleppt werden.
Es gibt Welten, in denen die Morgendämmerung vom tausendfachen Klatschen der Flügel begrüßt wird, Flügel, die hoch über der Erde dahinsegeln; in denen sich die triumphale Hymne des aufgehenden Himmelskörpers mit dem Schluchzen des flügellosen Zyperngrases verbindet, das auf der verachteten Erde stirbt.
Es gibt Welten, in denen das Sonnenlicht nur auf die dumpfe Fläche verschlossener Fensterläden trifft - denn es ist bitterer als Galle.
Aber von diesen Welten ist hier nicht die Rede.
Es gibt Welten, in denen die Sonne gelb ist wie die Pupille des Drachen, das Gras grün und das Wasser durchsichtig. Dort recken sich Schlösser aus Stein und Häuser aus Beton in den Himmel, dort fliegen Vögel durch die Luft, und die Menschen lächeln in die Sonne.
Auch von ihnen ist hier nicht die Rede.
Es gibt Welten, in denen Nacht und Tag untrennbar miteinander verschmelzen. Wo man den Blick zur Sonne erheben und die Sterne erblicken kann. Wo man in die Nacht hinaustreten und ins Sonnenlicht schauen kann.
Auf den Weg ...
1
Das Licht ging aus.
Wenn einem ständig kleine Unannehmlichkeiten zustoßen, handelt es sich genaugenommen nicht mehr um kleine Unannehmlichkeiten, sondern um ein Großes Unangenehmes System - unbedingt mit Großbuchstaben geschrieben. Die Theorie lehrt, dass kein einziges Großes System ohne eine Globale Ursache auskommt. Globale Ursachen gehören zu den Dingen, die man nur einmal im Leben vernachlässigt.
Tastend machte sich Viktor auf den Weg zur Tür, wo der Sicherungskasten versteckt war, eingemauert in die Wand wie ein Safe. Er hatte das Gefühl, als hätten die Möbel die Gelegenheit ergriffen, ein wenig durch die Wohnung zu spazieren, denn sie tauchten an Stellen auf, wo er am wenigsten mit ihnen rechnete. Es gelang ihm, einen Stuhl zu umrunden - dieser Hinterhalt war fehlgeschlagen -, dafür grätschte ihm ein anderer fröhlich in die Beine. Im Gehen rieb sich Viktor das angeschlagene Knie und streckte darauf suchend die Hand aus, als das Telefon anfing zu läuten. Das heißt, eigentlich fing es nicht an zu läuten, sondern es gellte grässlich und boshaft los und hüpfte dabei eifrig. So läutet es vermutlich, wenn ein Brand ausgebrochen oder jemand gestorben ist.
Das abgerissene Klingeln ertönte in kurzen Abständen - ein Anruf aus einer anderen Stadt -, und das konnte nur bedeuten, dass tatsächlich etwas geschehen war. Denn Mama würde höchstens zum Telefonhörer greifen, wenn eine Horde feuerspeiender Drachen in das gottverlassene Nest, in dem sie wohnte, eingefallen war.
Feuerspeiende Drachen mit kleinen gelben Pupillen ...
Viktor schüttelte den Kopf, um diese plötzliche, alberne Vision zu vertreiben, und stürzte mit großen Sprüngen zum Telefon, wobei er einen Stuhl umwarf. Wahrscheinlich den, den er zuvor mit einem Fußtritt beiseitegeschubst hatte und der daraufhin arglistig an den alten Platz zurückgekehrt war.
Mit einer heftigen Bewegung riss Viktor den Hörer von der Gabel.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Nur ein sehr langsames, heiseres Atmen war zu vernehmen.
»Hallo? Hallo, Mama, bist du es?«
Er wusste schon, dass sie es nicht war. Aber er war nicht bereit, sich das einzugestehen.
Im Hörer erklang gleichmäßiges Atmen. Begleitet von einem Pfeifton, als söge jemand die Luft zwischen nicht ganz fest geschlossenen - extrem scharfen - Zähnen hindurch ein.
»Hallo«, wiederholte Viktor. Müde und ergeben bemühte er sich um jene fürs Telefonieren typische Höflichkeit, die sich früher oder später doch so häufig in einen Strom gemeiner Schimpfwörter verwandelt - Schimpfwörter, die einem ein paar Minuten später peinlich sind.
»Bleib in Deckung ...«, flüsterte der Hörer. Gedehnt, angestrengt, als wollte der unbekannte Anrufer etwas viel Beleidigenderes sagen, könne sich aber ebenfalls noch beherrschen. »Lebe ... ruhig ... halte still ... bis ...«
Den Hörer ans Ohr gepresst, stand Viktor am Fenster und spähte zwischen den Vorhängen hindurch nach draußen. In dem Spalt erblickte er Nacht, Dunkelheit, schwaches, dünnflüssiges Weiß von den Straßenlaternen der Nachbarstraße. Nein, der Mensch war nicht zum Menschen geworden, als er die Kerosinlampe und die Elektrizität erfand; die erste große Erfindung der Menschheit war die Dunkelheit gewesen - und zwar eine so undurchdringliche Dunkelheit, wie sie sich die Natur niemals hätte erträumen können.
»Scheusale«, sagte Viktor. »Mistkerle!«
Er wollte gerne etwas Schlimmeres, Stärkeres sagen. Aber in einer leeren dunklen Wohnung vor sich hin zu schimpfen war genauso lächerlich, wie es für einen Dichter sein musste, die neuesten Verse für sich allein zu deklamieren.
»Idioten«, fügte Viktor noch hinzu und warf den Hörer auf die Gabel.
Langsamer und vorsichtiger als zuvor tastete er sich zurück zum Sicherungskasten.
Er wollte nicht hetzen. Wozu auch? In einer alten Wohnung waren die Sicherungen rausgesprungen. Was war daran so Besonderes? Ein betrunkener Trottel hatte angerufen oder eine bekiffte Rotznase. So was kommt vor.
Aber warum so oft? Warum?
Das Große Unangenehme System. Mama würde wahrscheinlich sagen, dass jemand ihn mit dem bösen Blick verhext hatte. Doch mit solchen abergläubischen Kindereien wollte er nichts zu tun haben!
»Gleich sind wir so weit«, murmelte Viktor, um sich zu beruhigen, während er sich mit einer Hand abstützte und mit der anderen die Wand abtastete, wo er den Kasten vermutete. »Gleich wird das Knöpfchen wieder reingedrückt ...«
Er spürte etwas Kaltes und fuhr mit den Fingern über die ungleichmäßige Stelle, um herauszufinden, was es war. Ein Gewinde ... ein zweites.
Die Schraubkappe - war leer. Die Sicherung war nicht rausgesprungen, der ganze Sicherungseinsatz war ganz einfach verschwunden.
Im Gegensatz zu seinem Bewusstsein wunderten sich seine Hände nicht. Langsam glitten sie von dem Verteilerkasten weg hinüber zur Klinke und öffneten die Eingangstür.
Im Treppenhaus brannte Licht, als sei nichts passiert. Auf dem Boden, direkt an der Türschwelle, lag der Sicherungseinsatz. Also war er rausgefallen. Hatte sich rausgedreht. Zufällig. Von selbst. War das möglich?
Nein.
Viktor staunte über seine eigene Gelassenheit und hob das Teil auf. Sorgfältig schraubte er es hinein und drückte den Knopf. Gehorsam ging das Licht an, und aus dem Fernseher erklang etwas Modisch-Poppiges, etwas Russisches, Vertrautes.
Eine weitere Unannehmlichkeit. Nach dem geplatzten Rohr, dem verstopften Abfluss, der explodierten Bildröhre und einer Reihe ähnlicher Missgeschicke. Höchstens ein bisschen merkwürdiger.
Obwohl ... in der Psychiatrie gibt es einen Fachausdruck für solche »unerklärlichen« Ereignisse, wenn ein Mensch hundertprozentig sicher ist, dass er etwas getan hat, was aber in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Na ja, vielleicht war er abgelenkt gewesen, als er den Knopf das letzte Mal reindrückte, gestern Abend. Aber dann hätte das Licht ja nicht gebrannt. Oder hatten sogar die Elektronen daran geglaubt, dass die Sicherung eingeschaltet war?