Das Land der Schattenwälder grenzte geradewegs an die östliche Grenze von Loj Iwers Besitztümern. Der Singende Wald war auf wundersame Weise völlig unversehrt geblieben, obwohl er sich am Rande der unerhört grausamen und heftigen Kämpfe befunden hatte. Wahrscheinlich hatte auch hier der berüchtigte Geist der Katzen als unsichtbarer Beschützer des Clans gewirkt, dachte Ritor mürrisch.
Und plötzlich erinnerte er sich an den Ball. Er konnte es noch schaffen. Loj hatte ihn mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit mit Einladungen überhäuft, ungeachtet der Tatsache, dass Ritor Bälle sein ganzes Leben lang als müßiges Getümmel und Keimzelle der Revolte betrachtet hatte.
Der Magier blickte zum Himmel. Immerhin war er schon ziemlich weit fort, und die Kraft des Wassers ließ um diese Stunde deutlich nach. Er bewegte die Schultern hin und
Wie leicht es war ... wenn er doch während der Morgendämmerung nur über einen kleinen Teil dieser Kraft verfügt hätte ...
Heute würde er auf den Ball gehen. Er würde Loj aufstöbern, selbst wenn er dafür ihren Orgasmus unterbrechen musste. Er würde sie zwingen, alle Gerüchte preiszugeben und ihre Spione zu befragen. Sie würde ihm alles sagen. Aus irgendeinem Grund hatte Ritor keine Zweifel, dass er vom Haupt der Katzen erfahren würde, wie und von wem der Verrat begangen worden war. Denn er glaubte nicht, dass die erfahrenen Zauberer des Feuers sich so leicht ergeben hätten, selbst wenn sie unerwartet in Gefangenschaft geraten waren.
Außerdem wollte er denjenigen Vertretern vom Clan des Wassers in die Augen blicken, die es wagten, nach allem, was geschehen war, auf Lojs Ball zu erscheinen.
»Sehr angenehm, dich zu sehen, Ritor«, schlug ihm eine Stimme entgegen - weich, fließend, wie eine eisige Quelle.
Der Anführer des Wassers stand da, eingehüllt in einen Feldumhang. Ruhig und mit erhobenem Kopf blickte er um sich, ohne Spott und ohne Herausforderung, in seinen Augen lag nur eine ganz gewöhnliche unverbindliche Freundlichkeit, als hätte es nie einen Kampf in der Burgruine gegeben.
»Du scherzt, Torn.« Ritor hatte seine Stimme und seine Miene ebenso gut in der Gewalt wie sein Feind. »Wenn wir nicht auf dem Ball wären ...«
»Ich verstehe dich sehr gut«, sagte Torn ohne Lächeln. Er war groß gewachsen und schmal und machte einen zerbrechlichen
»Also, was willst du dann?«
»Ein Gespräch. Hier kommst du nicht fort, Ritor.«
Ritor spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Was war das? Konnte es sein ...?
Sie ließen den Gang hinter sich. Vor ihnen öffnete sich der gewaltige Saal - zweifellos ein schönes Werk, wenn auch stilistisch allzu stark von den Elfen inspiriert; die geschmückte Menge stand um Tischchen mit Speisen, ein prächtiges Orchester war dabei, die wundersamsten Blasinstrumente zu stimmen (aus irgendwelchen Gründen erkannten die Katzen keine Saiten- und Tasteninstrumente an), und das ganze Schauspiel war in den Glanz gläsernen Taus, in das satte Gold des Laubs, in den leichten Atem eines frischen Windes getaucht.
Und in das Murmeln fließenden Wassers. In Loj Iwers Ballsaal waren alle Elemente gleich stark vertreten.
»Von Loj kommst du nicht fort«, wiederholte Torn hartnäckig; sein spitzes Kinn vollführte eine komplizierte Bewegung, als würde den Magier des Wassers sein loser blauer Kragen unerträglich drücken. »Du musst das verstehen. Die Sache ist zu weit fortgeschritten, als dass wir auf irgendwelche dummen Traditionen Rücksicht nehmen könnten. Du hast die Wahl, Ritor - Kampf oder Tradition. Wir können dich nicht ziehen lassen, auch wenn das bedeutet, dass es bei den Katzen ein Blutvergießen gibt.«
»Sie werden alle ohne Ausnahme über euch herfallen«, war das Einzige, was der Magier der Luft dazu sagen konnte.
»Du täuschst dich.« Torn vergaß nicht, höfliche Verbeugungen mit entgegenkommenden Gästen auszutauschen und den Damen unter liebenswürdigem Lächeln Komplimente zu machen. Ritor brütete finster vor sich hin und starrte auf den Boden. »Du täuschst dich, o Drachenbezwinger. Einigkeit gab es nie und wird es auch nie geben. Uns wird schon etwas einfallen, wenn es einer wagen sollte, eine Erklärung zu fordern. Sicher, eure Freunde werden sich an uns rächen wollen; aber wir werden uns auch mit ihnen einigen. Auch wenn uns dieser Ort hier natürlich für alle Zeiten versagt sein wird.« Er seufzte gekünstelt. »Im Übrigen wird er das ohnehin sein, solltest du deine Absichten verwirklichen und den Drachen in unsere Welt rufen.«
»Den Drachen kann man nicht rufen«, sagte Ritor mit dumpfem Kummer in der Stimme. »Er kommt von selbst, wenn seine Zeit anbricht ...«
»Das haben wir schon einmal von dir vernommen«, erwiderte Torn spöttisch. »Genaugenommen haben wir beide ein und dasselbe Ziel, Ritor. Hinter deinen hochtrabenden Phrasen strebst auch du nach der Macht. Nach der Macht über alle Clans der Mittelwelt. Du glaubst, wenn du nur möglichst viele Verbündete unter den Magiern gewinnst, wirst du auf diese Weise vielleicht den Drachen von deiner - sagen wir mal - Nützlichkeit überzeugen können. Ein schlauer Plan, ohne Zweifel. Die Geflügelten Herrscher wussten treue Dienste stets zu schätzen, allerdings verachteten sie Verräter. Genau wie wir übrigens. Was zuckst du so? Willst du mir eine Ohrfeige versetzen, eine einfache Backpfeife ohne jeden magischen Schnörkel? Der Wahrheit tut das keinen Abbruch.«
»Was willst du, Torn?« Ritor war berühmt für seine Selbstbeherrschung. Doch diesmal schien sie bis aufs Äußerste strapaziert zu werden.
»Ich genieße es einfach, in deine verzerrte Miene zu blicken. Ich beleidige dich, ich lache dir ins Gesicht, und du kannst nichts anderes tun, als hilflos mit den Zähnen zu knirschen. Denn du weißt so gut wie ich, dass ich die Wahrheit sage.«
»Du lügst, Torn«, sagte Ritor gleichgültig und mit unerwarteter Erschöpfung. Die Gleichgültigkeit kostete ihn unendlich viel, aber das konnte der Anführer des Wassers nicht ahnen. »Du weißt doch genau, dass ich nie nach Macht gestrebt habe, obwohl ich, so wahr es die Winde wissen, die Möglichkeit gehabt hätte. Und du weißt auch, dass nur der Drache in der Lage ist, uns vor dem Angriff der Angeborenen zu retten. Insbesondere wenn sie der Erschaffene Drache anführt.«
»Wir wissen, was wir ihrem Drachen entgegenstellen können, Ritor. Hast du das vergessen?«
»Ich bin zu alt. Ich habe alles verloren, was ich besaß. Und wer weiß, ob unser neuer Drachentöter zu helfen vermag, Torn? Wer weiß, was die Angeborenen in ihr Scheusal hineinlegen? Diesmal ist die Angelegenheit zu ernst. Nur die Große Kraft, die reine Große Kraft vermag die Mittelwelt zu retten. Also, warum willst du meinen Plan durchkreuzen? Du fürchtest meine Diktatur? Unsinn, dafür bist du zu klug und zu lange mit mir verfeindet. Sag, Torn, klingeln womöglich Münzen aus der alten Heimat in deinen Taschen?«
»Willst du sagen, die Angeborenen hätten mich gekauft?«, fragte der andere, ohne im Geringsten beleidigt zu sein, und lachte dabei auf. »Nun ja, du wirst nicht viel auf mein Wort geben, dennoch sage ich dir, nein, ich habe mich nicht kaufen lassen. Ich weiß nur einfach zu genau, wer diese Drachen sind.«
»Auch ich weiß das«, sagte Ritor trocken. »Ich erinnere mich an die Bösartigkeit, den Zorn und die Herzlosigkeit der Herrscher. Deshalb erklärte ich mich bereit ... damals. Aber man darf nicht die ganze Große Kraft der Welt vernichten. Und wahrscheinlich ist es auch nicht nötig ...«
»Der Clan des Wassers wird sich nie mehr unter fremde Herrschaft begeben, ganz gleich wie gütig und barmherzig diese am Anfang auch scheinen mag«, antwortete Torn ernst. »Ganz gleich, ob es die Herrschaft der Angeborenen, der Geflügelten Herrscher oder des Besten unter uns Magiern ist. Merk dir das, Ritor. Wir werden kämpfen. Deshalb haben wir den Clan des Feuers ausgekundschaftet, deshalb nahmen wir sie gefangen und vergossen ihr Blut. Denn wärst du mit ihnen zusammengetroffen, dann hätte ein neuer, mächtiger und unbezwingbarer Drache seine Rechte auf den Thron angemeldet. Ja, wir haben einen Drachentöter gerufen! Er ist schon auf dem Weg! Deshalb hör zu, Ritor, selbst wenn dein Plan sich doch noch erfüllt - wenn du auf wunderbare Weise von hier entkommen solltest, denn dir steht der Tod bevor, der Saal ist umzingelt -, einen neuen Drachenherrscher wird es in unserem Land nicht geben. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Ritor?«