In dieser Nacht träumte er nicht mehr.
Bei Tagesanbruch wachte er auf. Es war ein herbstlich kalter Morgen. Die Sonne verbarg sich noch hinter den senkrechten Felswänden, und die Schlucht war von feuchtem Nebel erfüllt, der klebrig und widerwärtig wie der Nebel in Sankt Petersburg war.
»K-kalt ist es«, sagte Tel mit klappernden Zähnen, während sie zusammengekauert dahockte. Ihr Gesichtchen wirkte frisch, und sie blickte Viktor mit gespielter Ernsthaftigkeit an, ganz so, als sei die Kälte seine Schuld.
Loj sagte nichts. Sie neigte sich graziös nach vorne und wusch sich an einer Wasserrinne, die von einem aus den Felsen hervorspringenden Bergquell gespeist wurde. Das muntere Bächlein sprudelte in die hölzerne Rinne und floss dann weiter bergab in Richtung Norden zu den trockenen Feldern und in die Steppe.
18
In der Dämmerung, während all die Kutscher und Treiber noch auf ihren Fuhrwerken schliefen, machten sie sich auf den Weg. Tel war auffallend nervös, ständig blickte sie sich um, manchmal blieb sie abrupt stehen und starrte reglos in die Ferne, obwohl da nach Viktors Ansicht absolut nichts zu sehen war außer ein paar blassen und weit entfernten Lichtern, die schnell von der aufgehenden Sonne verschluckt wurden.
Mit der Sonne überkam ihn eine merkwürdige Mischung aus Leichtigkeit und Unbekümmertheit. Der Zustand, wenn man sich dem trügerischen Gefühl hingibt, dass man unverwundbar ist und jedes Hindernis leicht überwinden kann.
Viktor begann sogar zu pfeifen. Weit ist der Weg, der hinter uns liegt, weit ist der Weg, er führt uns ins Dunkel, weit ist der Weg ... Puh, was für ein Quatsch! Und woher kam das jetzt bloß auf einmal?
Bergab fiel das Gehen leichter, aber die Gesichter von Loj Iwer und Tel verfinsterten sich aus irgendeinem Grund zusehends.
»Sie erwarten uns dort ... Viktor«, sagte die Frau endlich. Es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete seit ihrem nächtlichen ... hm ... Gespräch.
Tel nickte nur schweigend. In den letzten paar Stunden war sie regelrecht hohlwangig geworden; von ihr war, wie es so schön hieß, nichts als die Augen übrig, oder vielleicht wäre es besser, zu sagen, nichts als eine hervorstechende Nase. Und auch ihre frühere Gelassenheit war fast vollständig verschwunden.
»Viktor ... wie es aussieht, haben sie uns tatsächlich überholt.« Sie klang schuldbewusst, als wäre das allein ihr Versehen. »Sie haben die Trasse von Norden und von Süden her abgeriegelt. Hinter uns steht der ganze Clan der Erde. Sie warten darauf, dass wir umkehren und ihnen geradewegs in die Arme laufen. Vor uns warten Ritor und der Clan des Feuers.«
»Und Torn?«, fragte Loj scharf. »Spürst du ihn auch, Magierin vom Geheimen Clan?« In Lojs Worten und in ihrer Stimme war zum ersten Mal so etwas wie Respekt, wenn nicht sogar Ehrfurcht wahrzunehmen.
»Torn kann ich nirgendwo spüren«, bekannte Tel wiederum schuldbewusst.
»Warum wohl? Das wüsste ich nur zu gern«, murmelte Iwer vor sich hin. Tel gab keine Antwort.
»Gibt es noch einen anderen Weg?«, fragte Viktor geschäftig. Bei dieser Geschichte konnte er sich auf nichts als auf seine Erfahrungen aus amerikanischen Fernsehstreifen verlassen. Frei nach dem Motto: Wer kein Klopapier hat, der nimmt eben Schmirgelpapier.
»Es gibt keinen anderen Weg.« Die Katze schüttelte den Kopf. »Über Felsbrocken könnte man vielleicht irgendwie klettern, aber dort sind nur senkrechte Wände, Überhänge und Abbrüche.«
»Aber wenn es keinen anderen Weg gibt ...«
»Viktor, denk bitte dran, wir brauchen das Feuer!«
Da war sie wieder, die Frau Oberlehrerin, die dem dummen Schüler ihre Lektion einpaukte.
»Dann gehen wir eben weiter, Schluss aus jetzt mit dem Gerede!«, sagte Viktor wütend. Er hatte das alles so satt. Was war das für ein alberner Retter der Welt, dem die Hälfte der Leute, die er retten sollte, mit Feuereifer auf den Fersen war, um ihn so schnell wie möglich auszuschalten ... Und wenn er auf seine Verfolger treffen sollte, dann würden wieder unzählige unschuldige Menschen sterben.
Er erinnerte sich an den Wahnsinn im Waggon und konnte nur mit Mühe einen heftigen Würgereiz unterdrücken.
Ob es Gott hier gab? Oder war auch hier alles beim Großen Knall entstanden? Die Gnome und Elfen und die Angeborenen ...?
Apropos Angeborene, was hatte Loj über sie gesagt? Der Fluch unserer Welt? Keine besonders freundliche Empfehlung ...
»Sag mal, Tel, warum könnt ihr nicht einfach mit den Angeborenen verhandeln? Was wollen sie denn genau von euch?«
Sowohl das Mädchen als auch Loj fassten sich mit der gleichen bildhaften Geste an den Kopf.
»Bei allen Großen Kräften, was hat das denn jetzt für eine Bedeutung!«, brach es aus Tel heraus.
»Es interessiert mich eben«, schnappte Viktor zurück. »Vielleicht habe ich ja nie mehr die Gelegenheit, es zu erfahren, wenn wir erst mal da unten angekommen sind; also sei so nett und erklär es mir jetzt! Wenigstens, wer sie eigentlich sind. Sind sie Menschen? Ungeheuer?«
»Hast du es immer noch nicht verstanden? Die Andere Seite ist eine Welt ohne Magie, die Mittelwelt verfügt über beides, über Zauberformeln sowie Dampf und Elektrizität.
»Aha ... also so eine Art universelle Bösewichte.« Viktor seufzte. »Ich habe es trotzdem noch nicht verstanden. Warum kämpft ihr? Was gibt es zu teilen? Könnt ihr euch nicht absprechen?«
»Es gibt Magier, die vertreten die Auffassung, dass für die Angeborenen Aggression die einzig mögliche Form des Seins ist«, erklärte Loj trocken. »Verstehst du, Viktor? Du musst dir klarmachen, dass sie keine andere Wahl haben, als ununterbrochen ihre kämpferischen, zerstörerischen Formeln zu wirken. Und die müssen ja auf irgendwen gerichtet sein!«
»Das passt nicht zusammen ...«, begann Viktor. Eigentlich wollte er Loj erläutern, dass es in einem solchen Fall für die Angeborenen sinnlos wäre, überhaupt irgendetwas zu erobern, wenn sie ohnehin alles zerstören mussten. Allerdings hing hier alles vom Ausmaß ab ...
»Viktor, Tod und Zerstörung sind das Wesen jener, die hinter dem Heißen Meer zurückgeblieben sind«, fuhr Loj hitzig fort. »Ich verstehe schon, man hat dir beigebracht, dass alles im Leben Ursachen und Folgen hat, dass es keine absoluten Bösewichte gibt und dass man immer einen Kompromiss finden kann ... Das will ich nicht bestreiten. Meistens kann man das. Wir haben hier mit der Zeit gelernt,
»Langsam, langsam.« Viktor schüttelte den Kopf. »Beruhige dich und bleib sachlich, keine blumigen Vergleiche, bitte. Ihr seid doch selbst aus der Welt der Angeborenen hierhergekommen! Also ... vielleicht nicht ihr, aber eure Vorfahren ... Soll das heißen, ihr konntet euch hier eingewöhnen und kommt jetzt miteinander aus, ihr konntet Tod und Zerstörung überwinden, und die, die dort geblieben sind, haben sich für immer der Rachgier verschrieben? Wie sieht es dort aus, stehen dort Schlösser aus menschlichen Knochen, fließen dort Flüsse von Blut, wurde dort ein Imperium des Bösen errichtet, ein Königreich des Lasters? Warten dort abstoßende Monster nur darauf, die Mittelwelt endlich zu zerstören?«
»Kein Imperium und kein Königreich.« Loj schüttelte den Kopf. »Und über ihr Aussehen kann ich dir nichts
Tel hatte Lojs Monolog aufmerksam gelauscht und schüttelte den Kopf. Sie lächelte sogar ein wenig. Vielleicht weil sie der Ansicht war, dass das nichts mit Neid zu tun hatte?
»Wie sie leben? Stell eine einfachere Frage. Nicht einmal die Geflügelten Herrscher wussten etwas darüber ... wahrscheinlich. Und unsere Vorfahren bewahrten keine Erinnerungen in ihrem Gedächtnis, nachdem sie jene fernen Ufer verlassen hatten. Nicht einmal die Kriegsgefangenen der Angeborenen konnten uns etwas erzählen, denn auch sie hatten ihr Gedächtnis verloren. Und die Angeborenen wollten sie später nicht mal mehr zurücknehmen.«
Tel nickte.
»Die Angeborenen sind alles. Und gleichzeitig sind sie nichts. Absolute Freiheit und totale Versklavung. In ein und demselben Wesen. Sie sind unfähig, sich zu verändern. Bei all ihrer unvorstellbaren Veränderlichkeit. Eine Magie, die dir selbstverständlicher ist als das Atmen oder Sehen, wird dir keinen guten Dienst erweisen. Du hörst auf, den eigenen Armen zu vertrauen. Du schließt dich in dir selbst ein. Du selbst bist die Welt, und die ganze Welt ist in dir, und du beherrschst sie. Das ist eine Versuchung ...« Tel schüttelte den Kopf. »... sich als grenzenloser Herrscher zu fühlen. Wahrscheinlich ist den Angeborenen deshalb allein schon der Gedanke an unser Dasein verhasst. Weil wir für uns selbst existieren, wir sind nicht in ihnen und