Ach ja, ein allzu schönes, greifbares Bild hatten die beiden da für ihn gezeichnet! Viktor blickte Loj voller Zweifel an, aber die Zauberin schien aufrichtig gesprochen zu haben. Sie selbst war von ihren Worten überzeugt. Aber sollte Viktor sich diesem Glauben wirklich anschließen?
»Und deshalb ...«, Loj atmete tief durch, »... kommen manchmal Schiffe über das Heiße Meer zu uns. Schöne Schiffe, die Buge mit Adlerköpfen verziert ...«
»Warum gerade mit Adlern?«, fragte Viktor. »Ist das ihr Wappen?«
»Wappen?« Loj schien verwirrt. »Nein ... sie haben keine Wappen. So sind einfach ihre Schiffe, das versteht sich doch von selbst! Na, sie werden doch nicht in normalen Handelsschiffen daherkommen!«
»Und Flaggen?«
»Flaggen haben sie. Schwarz mit Gold. Und in der Mitte einen Adlerkopf. Als wir das letzte Mal gegen sie kämpften, haben wir eine Menge Trophäen erbeutet. Aber wir konnten sie nicht bewahren. Sowohl ihre Waffen als auch ihre Harnische und Flaggen - alles löste sich auf. Wie Nebel. Die Magier waren darüber sehr verbittert.«
»Das ist ja interessant«, warf Viktor nachdenklich ein. »Vielleicht sind sie ja nur Gespenster?«
»Gespenster? Wenn du sie je getroffen hättest ...«, empörte sich Loj. »Physischer kann man kaum sein! Sie können einfach sein, wie sie wollen; das habe ich dir doch schon erklärt.«
»Und die Leichname ihrer Toten? Bleiben die?«
»Sie sind verbrannt.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Wenn sie tot sind, halten sie die Schwere unserer Welt nicht aus. Deshalb können sie sich hier nicht festsetzen. Und deshalb müssen sie unsere Welt entweder ganz erobern, oder sie werden wieder zurückgeworfen. Willst du sonst noch etwas wissen?«
Viktor blickte in ihr angespanntes Gesicht und beschloss, dass es jetzt wohl an der Zeit war, seine Fragen zurückzustellen.
»Da vorne wartet eine Hundertschaft Magier auf uns, die uns in Stücke zerfetzen will«, sagte Tel vorwurfsvoll, »und ihr plaudert hier, als wären wir auf einem Sonntagsausflug. Vielleicht haben sie uns ja schon bemerkt! Vielleicht kommen sie uns schon entgegen!«
»Beruhige dich, Tel«, sagte Loj. »Sie gehen nirgendwohin. Sie sitzen da unten, haben sich eingegraben und warten. Sie wissen genau, dass wir an ihnen vorbeimüssen. Sie brauchen sich doch gar nicht zu bewegen. Erzähl uns lieber, was du über Oros weißt.«
»Als ob du dort keine Spione hättest«, brummte Tel.
»Natürlich habe ich die«, parierte Loj gelassen. »Aber je mehr wir wissen, desto besser. Kennst du vielleicht ihre Abwehrformeln? Losungsworte? Durchgänge und Zugänge? Fallen?«
Tel schüttelte langsam den Kopf.
»Es hat keinen Sinn, direkt in die Stadt vorzudringen. Wir müssen nur ans Ufer kommen.«
»Und dann?«, hakte Loj nach. »Treiben sie uns zum Wasser hin in die Enge und töten uns?«
»Am Ufer kann ich die Tür öffnen«, sagte Tel in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Und durch diese Tür
»Der Clan des Feuers hat keinen einzigen Magier ersten Ranges mehr«, erinnerte sich Loj mit einem Mal. »Das heißt ... Torn, Ritor und ich. Keine schlechte Verteilung.« Ihre Stimmung hellte sich spürbar auf.
Tel musterte sie von oben bis unten, presste unfreundlich die Lippen zusammen, sagte aber nichts. Wahrscheinlich ist sie eifersüchtig, dachte Viktor. Und überlegt, wie wir Iwer loswerden könnten. Aber jetzt ist es schon zu spät dafür. Man kann schließlich niemanden in den sicheren Tod schicken. Und wer weiß, wofür so eine Gefährtin wie Loj noch gut ist. Einmal hat sie uns ja schon geholfen.
Der Weg begann sich zu winden. Der Pass verlief mal nach links und mal nach rechts in Serpentinen zum Meer hinunter. Hier hatte der Feuerclan offenkundig Hand angelegt: Die Wände flossen in erstarrten steinernen Strömen abwärts. An manchen Stellen war der alte Pass begradigt und der Weg neu angelegt worden; aber im Laufe der Jahre hatte die Vegetation wieder die von den Flammen ausgezehrten Steine überwuchert.
»Sie haben wahrscheinlich einen Spähtrupp ausgeschickt«, sagte Tel finster, während sie den Hals reckte und versuchte, etwas auf den vernarbten Gipfeln zu erkennen. »Und natürlich haben sie uns längst bemerkt.«
»Warum sollten wir uns dann noch verstecken?«, fragte Loj mit erhobener Augenbraue. »Viktor könnte doch einfach dafür sorgen, dass ihnen die Lust, uns heimlich zu beobachten, vergeht.«
»Nein, nein!«, antwortete Tel erschrocken. »Bloß nicht ... wir dürfen nur im äußersten Notfall töten. Nur wenn sie von sich aus versuchen, uns zu töten.«
»Wird es dann nicht reichlich spät sein?«, fragte Loj bissig.
Tel zuckte schweigend die Schultern.
Auch Viktor spürte einen fremden Blick. Als ob zwei klirrend kalte Eisstücke, die einfach nicht schmelzen wollten, auf seiner Stirn festgeheftet wären; und von diesen Eisstücken zogen sich zwei unsichtbare Leinen, so dass er sich wie eine ungeheure Küchenschabe mit unverhältnismäßig langen Fühlern vorkam.
Er gab sich seiner Wut hin, die langsam wuchs und sich tief in seinem Inneren zu einer angespannten Faust der Kraft ballte. Im Moment war sie noch formlos, aber bereit, jeden Augenblick das Antlitz eines zerstörerischen Wirbelsturms anzunehmen oder eines Wassertornados oder einer alles mit sich reißenden Steinlawine. Sie wagten es, ihm in den Weg zu treten? Sie erdreisteten sich, ihn heimlich zu beobachten? Wenn es ihm möglicherweise gerade in den Sinn kam, sich mit einer seiner Gefährtinnen zu vergnügen?
Puh, puh! Viktor erschrak: Was war das, was da plötzlich in seinem Kopf herumspukte? Der schwarz-rote Nebel löste sich langsam wieder auf. Die zusammengepressten Fäuste öffneten sich. Er blickte zu Tel und Loj hinüber, sie hatten offenbar nichts bemerkt.
»Hinter der nächsten Biegung liegt Oros«, formte Tel lautlos mit den Lippen. »Ihre Späher verstecken sich nicht mal.«
Und richtig: Vor dem hellblauen Hintergrund des Himmels sah man auf dem höchsten Felsen vor ihnen deutlich den hochroten Fetzen eines Umhangs zucken.
»Sieh mal einer an, diese dreisten Schurken«, stieß Loj zwischen den Zähnen hervor. Sie fuhr die Krallen nach Katzenart aus und hob die Hand. »Mal sehen, ob er es wagt ...«
»Loj!« Mit einem Sprung hing das Mädchen an der Schulter der Katze. »Lass das! Es ist zu früh! Du führst diesen Schlag, ja, aber dann können sie deine Formel entziffern und schicken ihn zurück!«
»Na gut, wenn du meinst.« Unzufrieden ließ Iwer die Hand sinken. Aber es war offensichtlich, dass Tels Worte Eindruck auf die stolze Katze gemacht hatten.
»Wir dürfen nichts unternehmen, ehe sie uns von sich aus angreifen.« Tel sah Viktor bittend an. »Versprichst du das? Bitte!«
»Und werden sie uns nicht mit ihrem ersten Schlag schon fertigmachen?«, erkundigte sich Viktor scheinbar unerschütterlich.
»Alles hängt von dir ab«, seufzte Tel. »Uns brauchen sie nicht ... nun ja, vielleicht will Ritor sich an Loj rächen. Aber ansonsten mach dir um uns keine Sorgen. Jetzt wollen sie vor allem dich und nur dich.«
»Dann lasst uns gehen«, formten Viktors Lippen.
Es sieht ganz so aus, als wüsste ich jetzt endlich, was es heißt, das Herz in der Hose zu haben, dachte Viktor. Nein, ich eigne mich einfach nicht zum Helden. Weder als Conan noch als Terminator. Ich sehe mich schon ganz deutlich daliegen, tot und präpariert, in einer Anatomiestunde für angehende Magier. Es wäre schön, sich auf den Beinen zu halten, sich nicht vor Angst in die Hose zu machen. Warum hatte Tel ihm nie gezeigt, wie man zaubern konnte?