Und von oben kam der Tod. Viktor sah ihn, einen in perlmuttfarbenem Licht erstrahlenden Speer von aufs äußerste verdichteter Luft. Der Speer zerschmetterte den Gesteinsbrocken, den Viktor ihm im verzweifelten Versuch, sich zu verteidigen, instinktiv entgegengeschleudert hatte, zerschmetterte ihn in kleinste Teile; im letzten Moment duckte Viktor sich weg.
Sein Gesicht brannte vor Schmerz, am Hals quoll Blut hervor. Sowohl Tel als auch Loj waren verschwunden, eingehüllt von der um sie aufsteigenden Feuerwolke. Die Felsen brannten, die Kiefern auf den Felsvorsprüngen glühten, und immer neue Pfeile stießen mit Geheul auf sie herab, auf seine Schultern legte sich eine ungeheure Schwere. Viktor begann zu keuchen, jeden Atemzug musste er mit riesiger Kraftanstrengung in seine Lungen hineindrücken; in einem Anfall heftigen Hustens fiel er nach vorne.
Zwei Hände fassten ihn unter den Achseln, rissen ihn kraftvoll nach oben und zwangen ihn aufzustehen. Er drehte sich um und sah Loj. Ihr Gesicht war verzerrt, blutig und dreckverschmiert; ihre Augen blickten wahnsinnig.
»Steh schon auf, Viktor! Bitte, steh auf!«
Ein neuer Schlag. Loj wurde auf den steinernen Boden geschleudert, sie stöhnte kurz auf und umfasste ihren Kopf mit beiden Händen; zwischen ihren Fingern quoll Blut hervor.
»Ich werd’s euch zeigen!«, schrie Viktor. Und eine süße Raserei breitete sich in ihm aus. Wasser und Luft vereinigten sich. Ein donnernder Strom brach aus dem berstenden Felsen hervor, Granitbrocken ließen ihre seit Jahrhunderten angestammten Plätze im Stich; eine bräunlich-graue
Das Feuer heulte in Agonie, denn der Wind fachte es nicht an, sondern zerriss die Flammen und ließ sie ohne Nahrung zurück; und auf den Wind folgte das Wasser und vollendete die Niederlage. Aus dem Rauch tauchte Tel auf, völlig zerrissen und voller Schrammen, wieder warf sie sich auf Loj, umfasste sie, als wäre sie ihre Mutter.
»Hinab! Zum Ufer!«, schrie das Mädchen.
Loj erhob sich schwankend.
»Los, los!«
Unten traf die Lawine auf ein eilig errichtetes Schild vom Clan der Luft. Der Wind heulte blindwütig, wieder fielen Bäume, die zusammenprallenden Ströme fegten alle Häuser in ihrer Nähe weg, ein brüllender Wasserstrom schoss hoch in den Himmel und versuchte, sich über die plötzlich aufgetauchte Ebene hinwegzusetzen. Die Welle bog sich wie ein unbekanntes Tier vorm Sprung und begegnete dem ihr entgegensprudelnden Feuerstrom mit der Brust.
Wahrscheinlich hatte der Clan des Feuers alle von ihm in dieser Welt freigelassene Kraft dafür aufgewandt. Dampfschwaden quollen hinauf in den Himmel und höher; sie vertrieben die bedrohlichen Wolkentürme. Ein senkrecht niedergehender Blitz schlug vergeblich ein und spaltete eine unschuldige Platane.
Viktor spürte, wie beißender, heißer Schweiß in seine Augen lief, als würden seine Poren eine kochende Flüssigkeit von sich geben. Um ihn herum breitete sich eine tote
»Bleib stehen! Ergib dich, elender Feind!«, ertönte hinter ihm ein Heulen. Und augenblicklich hallten Musketenschüsse wider.
»Die Erde«, flüsterte Loj. Ihre Augen brannten mit unauslöschbarem Feuer, und sie erinnerte fast unerträglich deutlich an eine vor Wut rasende Katze. »Haben sie uns doch eingeholt ...«
»Herr Andrzej.« Tel ballte die Hände zu Fäusten. »Halte aus, der Magier ...«
»Legt euch endlich hin, ihr Närrinnen!«, brüllte Viktor, denn die Kugeln pfiffen nun schon ganz in ihrer Nähe durch die Luft.
Aus dem Nebel hinter ihnen tauchten einer nach dem anderen die Gestalten der Gardisten auf. Man konnte sagen, was man wollte, aber sie waren erstklassig geschult. Sie schossen aus dem Stand, ohne Auflage für die Muskete und dabei noch gut gezielt. Eine Kugel prallte dicht neben Viktors Kopf in einen Felsblock und wurde zusammengedrückt.
Das ist endgültig der Untergang. Jetzt haben sie uns in der Zange, dachte Viktor. Er musste auf der einen Seite gegen die Formeln der Luft und des Feuers bestehen und gleichzeitig auch noch den ehrwürdigen Herrn Andrzej ausfindig machen.
Ach, es war schwer ...
Aha, da bist du, Freundchen - hinter den Musketieren, die hoch zu Ross näher kamen, blitzte die bekannte ausgemergelte Gestalt auf.
Und unter Viktors Füßen bebte die Erde.
»Ji-i-ij!« Lojs Hand durchschnitt scharf die Luft, als sie das Zeichen eines Kreuzes andeutete. Der kräftige Bursche, der bereits mit dem aufgesteckten Bajonett auf sie zustürmte, fasste sich an die aufgeschlitzte Kehle und stürzte wie ein Mehlsack zu Boden.
Viktor spürte mit der Haut, wie sich Andrzejs Formel um sie zusammenzog; wieder war sie unerhört kompliziert, verworren, Anfang und Ende waren ineinander verwoben, die Schatten irgendwelcher Monster tauchten auf; in Wellen erschienen Tiere, Katzen, Bären, riesige Insekten, gigantische Eidechsen; Schwindel überfiel Viktor. Er fühlte, dass die Macht dieser Formel ungeheuer groß war; und sobald sie ungehindert auf sie losbrach, würden die Felsen Loj, Tel und Viktor zu Staub zermalmen, und selbst seine Erdweihe würde ihm dann nichts mehr nützen.
Er hatte nicht die Zeit für einen ordentlichen Gegenschlag, gleich würde seine dünne Schutzhülle platzen; Viktor schickte einen pfeifenden Luftspeer los. Und wie es aussah, warf der Speer den Erdmagier um. Seine Gardisten hatten ihrerseits die Lust verloren, auf sie loszustürmen, nachdem Loj noch zwei ihrer Kameraden aufgeschlitzt hatte.
»Lauft los!«, rief Tel. Schwankend setzte sich Viktor in Bewegung. Der Schlammstrom hatte einen neuen Weg geschaffen, als hätte ein riesiges Tier ihn mit der Zunge ausgeleckt.
Bergab zu laufen war leicht. Weiter rechts von ihnen kämpften die Krieger vom Clan der Luft und vom Feuer noch mit den Ungeheuern der Luft, des Wassers und der Erde, die Viktor erschaffen hatte. Hier brüllte eine Flamme, dort heulte ein Wirbelsturm. Tel hatte wohl beschlossen, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Hinter ihnen prasselten
Wahrscheinlich war es der letzte Vorstoß, ein verzweifeltes Unterfangen. Sie hatten schon begriffen, dass sie den Drachentöter nicht überwältigen würden, aber sie wollten es sich einfach nicht eingestehen. Und dieser Schlag der Luft, der besser gezielt war als alle vorherigen, hätte um ein Haar sein Ziel erreicht.
Viktor wurde umgerissen und über den Erdboden geschleift. Er hatte das Gefühl, zu hören, wie seine Rippen knackten, und das stumpfe Ende eines todbringenden Speers begann sich geradewegs in sein Herz zu bohren.
Nein!
Tel hatte geschrien, oder war das seine eigene, vom Schmerz heisere Stimme gewesen, während er sich im Todeskampf herumrollte?
Ausrotten würde er sie!
In diesem Moment hörte er auf, an sich selbst zu denken. Fast blind vor Schmerz streckte er sich mit allen verbliebenen Kräften seinen Feinden entgegen. Luft, Erde und Wasser vereinigten sich. Vor den schreckstarren Augen seiner Widersacher entstand ein richtiges kleines Haus, das wie in Zeitlupe in Stücke gesprengt wurde. Zum Dach hinaus in die Luft spritzten Erdfontänen, als würde ein schweres Geschütz nach dem anderen in seinem Inneren explodieren.
Für einen Moment waren die Silhouetten eines Jungen, einer fülligen Frau und dreier Männer zu sehen, ehe sie in einem unvorstellbaren Wirbel verschwanden.
Augenblicklich wich der Schmerz von Viktor.
Viktor, Loj und Tel erreichten bereits das Ufer am Rand der Stadt, als aus einem Winkel eine schmale Gestalt auf
»Eine Formel«, krächzte Loj.
Das Mädchen stand einfach so da, ohne sie anzugreifen. Ihre Augen waren voll und ganz auf Viktor gerichtet. Er hatte keine Kräfte mehr übrig. Und vor allem keine Wut.
»Gleich ...« Loj trat mit schwerem Schritt auf die Magierin des Feuers zu. »Diese verdammte Göre war auch bei Ritors Hinterhalt dabei ... gleich werde ich sie ...«