Viktor sah Trichter von Wirbelstürmen, die reglos in der heißen Luft hingen; seine Haut spürte, wie die Winde zu unvorstellbar schrecklichen Attacken bereit waren. Und die friedvoll heranrollende Brandung konnte sich jeden Augenblick in einen wütenden Angriff wahnsinniger Wellen verwandeln.
Und noch höher, auf dem flachen Gipfel des Kegelberges, sah Viktor ein Schloss. Es sah aus, als wüchse es aus den Knochen der Erde heraus. Es schien die Verlängerung der schwarz-goldenen Berghänge zu sein; und gleichzeitig konnte Viktor sich einfach nicht von der Illusion befreien, dass das Schloss nicht auf dem Felsen stand, sondern in der Luft schwebte, dass eine dünne Schicht aus Nichts seine Fundamente von der flachen Schnittstelle des Gipfels trennte.
Die Mauern des Schlosses waren von undurchdringlichem Schwarz. Sie waren nicht glänzend tiefschwarz wie das umliegende Felsgestein und auch nicht wie kostbarer Achat, sondern schwarz wie jene immerwährende Finsternis, aus der einst alles Wahrhaftige geschaffen wurde, ehe noch »Es werde Licht!« erklang. In diesen Mauern ertrank
Und über dem Kranz zinnenbewehrter Mauern und spitzer Wehrtürme hingen matte, perlmuttfarbene Kuppeln. Ihre weichen Rundungen schufen einen wundersamen Kontrast zu der Schärfe und Zackigkeit der Außenmauern. Für einen Moment kam es Viktor sogar so vor, als ob er riesenhafte, frisch gelegte Eier sähe, Eier, aus welchen ans Licht der Welt zu gelangen es nur den großen Echsen, den Doppelgängern der Geflügelten Herrscher gebührt.
Viktor sah das Schloss von einem günstigen Punkt aus; es führte noch ein zweiter Weg dort hinauf, und er konnte nicht feststellen, auf welchem er sich befand. Einer endete neben einer blinden Schlossmauer und der zweite vor den Toren, die in der Riesenhaftigkeit des Schlossbergs winzig klein aussahen. Noch ein weiterer dritter Weg führte zu den Toren, und zwar von einem weitläufigen Platz her, der durch eine Schlucht vom Schloss abgetrennt war. Diese Schlucht führte so steil in die Tiefe, dass sie aussah wie ein Spalt, der vom Hieb einer ungeheuerlichen Axt herrührte. Über diesen Abgrund spannte sich eine Brücke ... eine sehr merkwürdige Brücke, die an einen Regenbogen erinnerte. Nebel in allen Farben ballten sich über der Schlucht, dunkelrote, blaue und dunkelviolette Schwaden verliefen über dem weit geöffneten Rachen des Abgrunds ineinander.
Der ungeheuerliche Spalt zog sich etwa bis zur Mitte des Kegels; dann ragten auf der Viktor zugewandten Seite schwarze Felsen in die Höhe empor, jedoch war Viktor selbst aus irgendeinem Grunde fest davon überzeugt, dass der Abgrund weit tiefer als bis zum Meeresboden reichte, weit hinab in die mächtige Erdkruste - und war da nicht
»Viktor!« Tel kam hinter einem Stein zum Vorschein. Sie war völlig verdreckt und ihre Kleider zerrissen. »Wo ist Loj? Hast du sie gesehen?«
»Nein.«
»Wir müssen sie suchen! Und wir müssen den Weg nach oben nehmen, zum Schloss! Sie jagen uns ...«
»Wer jagt uns?«, fragte Viktor verwundert.
»Ein Magier ersten Ranges kann durch die Tür gehen. So wie Loj es konnte. Und jetzt sind Ritor, Torn und Andrzej hinter uns her.«
»Ach, der auch?«, wunderte sich Viktor noch mehr.
»Der ganz besonders.« Tel konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. »Wie du ihm den Kübel über den Kopf gestülpt hast! Welcher Magier würde das hinnehmen! Vielleicht, wenn du ihn im magischen Duell besiegt hättest, nach allen Regeln der Kunst - aber so war es ja eine schreckliche Blamage und das auch noch vor seinen Vasallen! Er wird lieber Erde fressen, als uns in Ruhe zu lassen. Na gut! Scherz beiseite. Wo ist Loj?«
»Ich bin hier«, vernahmen sie eine finstere Stimme.
Ziemlich zerzaust und mit neuen Rissen im Kleid tauchte Loj bei ihnen auf.
»Nicht jeder reist auf diesem Weg so bequem wie auf der Route der Gnome«, erklärte sie. Sie schüttelte sich - wobei sie wirklich haargenau wie eine durchnässte Katze aussah! - und blickte nach oben. Augenblicklich beschattete sie mit der Handfläche die Augen.
»Bei den Großen Kräften ... ich hätte nie geglaubt, dass ich es irgendwann einmal mit eigenen Augen sehe ... das Schloss über der Welt, Viktor! Sieh nur, das Schloss über der Welt!«
»Ja«, bestätigte Tel mit einem gewissen Triumph in der Stimme. »Das Schloss über der Welt. Der Anfang aller Wege. Und auch ihr Ende. Das Schloss des Hüters.«
»Du hast mir nie von ihm erzählt, Tel.«
»Das konnte ich nicht, Viktor. Du musst mit ihm reden. Und sonst keiner.«
»Und was ist mit dir, Geheime?«, bohrte Loj.
»Ja, schon.« Tel nickte unwillig. »Unter besonderen Umständen ... kann auch ich. Nur möchte ich das nicht. Weil diese Umstände sehr ungünstig wären.«
»Das heißt, ich muss nur zum Schloss hinauf und mit dem Hüter sprechen?« Viktor konnte es kaum glauben.
»Ja, du musst nur hingelangen.«
»Und warum gibt es mehrere Wege?« Viktor ließ nicht locker.
In den Augen des Mädchens blitzte es bedrohlich.
»Lass uns gehen! Die Magier werden sich bald hierher durchgeschlagen haben!«
»Wieso sollten wir sie fürchten?«, sagte Loj plötzlich. »In Oros waren sie viel mehr und konnten doch nichts gegen uns ausrichten.«
»Loj, auf der Dracheninsel verstärken sich die Kräfte eines jeden Magiers.«
»Und Viktors Kräfte ...«
»... sind genauso groß wie vorher«, schnitt Tel ihr das Wort ab. »So kommt doch endlich, wir stehen schon lange genug hier herum!«
Endlich brachen die drei auf, den spiralförmigen Weg hinauf. Die Insel der Drachen erwies sich als riesiger Felsen, der inmitten des öden Meeres einsam in den Himmel aufragte. Auf ihr wuchs nichts, kein Grashalm. Es gab nur
Etwa eine Viertelstunde lang gingen sie schweigend dahin.
»Und das ist die ganze Prüfung?« In Viktors Stimme schwang sogar so etwas wie Enttäuschung mit. »Den Weg bis zum Ende zu gehen?«
»Angeblich ja.« Tel runzelte die Stirn. Irgendetwas gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Feuergräben«, bemerkte Loj. »Tornados. Und andere elementare Feinheiten.«
Tel krauste ihre kleine Nase.
»Das gehört einfach zur letzten Prüfung ... die Macht über die vier Urgründe ... Viktor muss sie bestehen. Ich habe gehört, dass diese Prüfung in früheren Zeiten erschaffen wurde, als noch viele die Tür zu öffnen vermochten ... und einen Angriff auf die Kraft und die Macht des Hüters versuchten. Aber ohne die vier Weihen würde niemand auch nur die ersten Windungen der Spirale überstehen.«
»Gut.« Loj fühlte sich offenbar nicht wohl. »Lasst uns weitergehen, aber wir müssen uns regelmäßig umsehen; ich spüre, dass die drei nicht mehr weit entfernt sind.«
Schritt, Schritt, Schritt. Es war seltsam, wie ihre Reise zu Ende ging. Abgerissen, schmutzig, erschöpft, schritten sie beharrlich immer weiter, vorbei an wundersamen Zeichen, die in die aufrecht stehenden Steine gemeißelt waren: heilige Symbole aller bekannten und unbekannten Religionen sowie ineinander verschlungene Runen, Hieroglyphen, arabische Kalligraphie und die längst vergessene babylonische Keilschrift.
Was bedeutete das alles? Diese Schriftzeichen lockten mit uralten Geheimnissen, älter als das Meer, älter sogar als
Das erste Hindernis erwartete sie, als sie den Berg einmal fast umrundet hatten. Ein Graben voller Feuer, im Grunde nicht allzu schwierig. Er war nicht breiter als zwei Meter, und vermutlich konnte man ihn mit Anlauf einfach überspringen. Tel und Loj blieben stehen und gingen nicht näher als bis auf zehn Schritte zum Rand des Grabens hin.
Viktor näherte sich vorsichtig. Und sogleich heulte die Flamme auf, Feuerzungen schlossen sich zu einer dichten Wand zusammen, Hunderte Hitze versengende Hände streckten sich ihm entgegen ... Hier würden sie kaum rüberspringen. Natürlich könnte er auch fliegen, ja, vielleicht sollte er das tun? Loj und Tel konnten hier warten, und er würde schnell zum Schloss fliegen und zurück ...