Hier führte kein Weg mehr weiter. Allerdings schien es Tel deutlich besser zu gehen. Sie richtete sich auf ... Loj blickte sie besorgt an und achtete einen Augenblick nicht auf Viktor ...
Wenn dies die Prüfung der Erde war, dann war sie wiederum nicht schwer.
Viktor hob langsam die Hand.
Und ließ sie ebenso langsam wieder sinken.
Ein unsichtbarer Wind trug aus der Ferne eine Welle fremder Kraft herbei. Wirklich großer Kraft.
20
»Was zögerst du noch?« Loj blickte ihn fordernd an. »Viktor! Sieh hin! Dort, nach Süden!«
Am Horizont bewegte sich etwas. Schwoll an, überzog sich schwarz, leuchtete in einem feurigen Netz von Blitzen auf.
»Ein Sturm?«
Loj schüttelte den Kopf. Der Wind zerrte an ihren Haaren, hüllte ihr Gesicht in eine goldene Wolke ein.
»Nicht einfach ein Sturm, Viktor! Das ist die Invasion! Die Angeborenen rücken gegen die Mittelwelt vor!«
Viktor blickte unwillkürlich zu Tel hinüber. Er suchte Unterstützung oder wenigstens ein verärgertes Kopfschütteln, mit dem sie zum Ausdruck brachte, dass Loj wieder fantasierte ...
Das Mädchen schaute in die Ferne, während es sich auf die Lippen biss. In ihren Augen leuchtete ein zorniges, gelbes Feuer. Ihre kleinen Fäuste ballten sich zusammen.
»Ja«, flüsterte sie, als sie Viktors Blick auf sich spürte. »Ja ...«
Loj war wie ausgewechselt. Nein, es lag keine Angst in ihrem Gesicht, sondern erstauntes Abwarten. Verwirrung.
»Viktor, worauf wartest du? Warum tust du nichts gegen diesen Abgrund? Gegen die Wände? Du musst das Schloss
Das Mädchen schwieg. Glaubte sie vielleicht nicht mehr daran, dass Viktor etwas ausrichten konnte?
Er schüttelte sich. Blickte noch einmal auf den Abgrund.
Um ehrlich zu sein, einmal in die Hände gespuckt und schon ... Er müsste sich nur hinunterbeugen zu dem tief unten liegenden steinernen Plateau, zu der Felsplattform, zu den Wurzeln der Erde, und von dort aus dem Abgrund eine neue Scholle heraufholen. Er könnte die ganze Insel einebnen, sie zu einem flachen Pfannkuchen ausrollen. Oder - noch leichter - eine Luftbrücke über den Abgrund schlagen.
Zu den schwarzen Mauern hintreten und mit einer Welle des Feuers auf sie einhämmern, mit einer messerscharfen Luftklinge, einem Rammsporn aus Wasser.
Mit allem dienstbaren Zorn, mit aller Kraft, die dem Drachentöter gegeben war.
Den Kreis schließen. Die Kraft endlich ganz annehmen. Und der sich nähernden Horde entgegentreten, denn er hatte nicht vor, ihnen die Mittelwelt zu überlassen. Er würde jenem entgegentreten, dessen biegsamer stählerner Körper über den adlerköpfigen Schiffen klirrte. Warte noch, Hund, ehe du die Herde zur Schlachtbank führst! Der Wolf ist noch nicht im Wald verschwunden.
»Der Drache kommt«, sagte Tel. Spöttisch und bitter. »Der Drache kommt, Viktor. Wer tritt ihm entgegen? Die besiegten Magier der kampfunfähigen Clans?«
Loj fasste das Mädchen um die Schulter und nickte. »Und? Hörst du, was sie sagt? Sogar sie hat es verstanden! Die weißen Kuppeln des Schlosses über der Welt beginnen
»Nein«, sagte Viktor. »Ich verstehe ... aber so geht das nicht.«
Loj wandte sich zornig um und deutete nach Süden. Dann erstarrten ihre Bewegungen.
»Drachentöter!«
Ein Schrei drang vom Ufer zu ihnen. Weit unten, am Anfang des Weges, warf der Magier der Luft, der ehemalige Drachentöter, die Arme nach oben. Seine Stimme, die der Wind erfasst hatte, traf direkt auf ihre Ohren.
»Drachentöter! Ich werde dich meinen Weg nicht gehen lassen! Nein!«
»Beruhige dich, Unglücklicher!« Loj stand am äußersten Rand der Steilwand. »Du hast nichts ...«
Die Luft heulte auf, als Ritor seinen Schlag führte. So unerwartet und so stark, dass sich Viktor im Fallen - so unpassend es auch war - für die Meisterschaft seines Gegners begeisterte. Dieser vom Misserfolg wahnsinnig gewordene Magier war ein Meister, ein großer Kämpfer; und sogar Viktors Kraft, die eigentlich viel größer war als die des Luftmagiers, konnte an der Situation nichts ändern.
Während er über den bernsteingelben Weg schlitterte, sah Viktor, wie sich die Mauern des Schlosses mit blutigem Gleißen überzogen. Wie dessen Luftschild zerfiel, unfähig, dem Ansturm von Ritors Beschwörungsformel zu trotzen.
Was tun?
Loj schrie auf, als der reißende Wind sie über die Kante in die Tiefe zerrte. Hinab zu den Windungen des Weges ... Tel hatte sich in einem unvorstellbaren Sprung ausgestreckt und es noch geschafft, sich an Viktors Schulter zu klammern;
Noch ein Windstoß, noch ein Angriff, und Viktor und Tel würden ebenfalls von dem Band aus gelb-goldenen Steinen abrutschen.
An der vorletzten Biegung des Weges, etwa zwanzig Meter unter ihnen, lag Loj. Zu Viktors Überraschung war sie am Leben. Die Zauberin hatte sich bereits erhoben, schüttelte den Kopf, krümmte sich unter dem Ansturm des Windes. Aus solcher Höhe ohne einen Knochenbruch? Katze ...
Aber ihnen stand ein viel weiterer Weg bevor.
Der Wind, der Ritor gehorsam ergeben war, ließ sie nicht senkrecht in die Tiefe stürzen. Er trug und zog sie, zerrte sie über die Felsvorsprünge hinab zum Ufer, geradewegs in Richtung des triumphierenden Magiers. Viktor versuchte, sich der Magie zu bedienen, die Luftflügel aufzuspannen ...
Nein.
Ritor lachte laut auf, als er Viktors vergebliche Bemühungen bemerkte. Wahrscheinlich lag für den alten Magier alles klar auf der Hand. Denn einst war er denselben Weg gegangen. Er war über die Spiralen aufgestiegen, hatte zugeschlagen und sich Einlass verschafft in das Schloss über der Welt.
Und er hatte schließlich die Weihe zum Drachentöter empfangen.
»Du kannst es!«, schrie Tel. »Du kannst es.«
Der Wind versuchte, sie auseinanderzureißen, wirbelte ihre ineinander verkeilten Körper herum, fuhr dann mit einem strammen Keil zwischen sie, wie ein elastisches Kissen ...
Kissen?
Viktor gab den Versuch zu fliegen auf. Er wartete, bis sie schon ganz nahe an den Ufersteinen waren, unmittelbar davor, dann zog er mit einer einzigen Kraftanstrengung eine prall gefüllte Luftlinse unter sich. Federnd und weich und rettend ...
Ritor schrie auf, schwankte und bedeckte sein Gesicht mit den Händen, als hätte Viktors Tat ihn in einen Schock versetzt. Die Luftlinse zerplatzte, warf Viktor mit dem Gesicht nach unten, Tel landete auf ihm, und er kam erst nachträglich dazu, sich über diesen Erfolg zu freuen.
»Nein, nein, nein!«, schrie Ritor, während er zurückwich. Der Sturm war verstummt, entweder der Alte hatte sich endgültig verausgabt, oder ... »Warum nur? Wie kann das sein!«
Viktor erhob sich und stützte Tel. Das Mädchen hatte offensichtlich einen Schwächeanfall.
»Was willst du, Ritor?«
Der Magier der Luft wand sich, als ob er Schmerzen hätte. »Dich, Drachentöter! Dein Leben!«
»Steht es dir zu, es mir zu nehmen, Ritor? Ritor, der du die Drachen tötetest!«
»Ich habe jenen Augenblick verflucht!« Ritor warf sein graues Haupt stolz nach hinten, als wäre allein seine Reue schon eine Heldentat. »Und ich kaufe mich von meiner Schuld frei, indem ich dich aufhalte!«
»Warum? Wo ist der Drache, den du verteidigen willst? Doch nicht dort draußen?« Viktor wies in die Richtung der sich ballenden Wolken über dem Meer.
»Der Drache kommt. Der echte Drache! Jener, der die Angeborenen aufhält, der die Mittelwelt verteidigt!«
»Bisher kommt nur der Erschaffene Drache!«
»Was weißt du über ihn, Drachentöter?«
»Genug, um zu begreifen, dass du ihn nicht besiegen wirst!« Viktor schüttelte Tel leicht und blickte ihr in die Augen, aber das Mädchen reagierte in keiner Weise. »Warte ... sie hat in unserem Streit nichts zu suchen.«